Okra Playground

Alte Wurzeln und frische Früchte aus Finnland

17. März 2023

Lesezeit: 6 Minute(n)

Okra Playground ist eine der aufregendsten jüngeren Bands der finnischen Folkszene, die schon seit Langem durch ihre Vielfalt und Innovationsfreude auffällt.
Text: Willi Klopottek

Grob gesprochen existieren in Finnland drei unterschiedliche musikalische Regionen: der Westen mit einer historischen Beziehung zur Musik Schwedens, der Osten mit Karelien, das heute nur zu einem geringen Teil zu Finnland, aber überwiegend zu Russland gehört, und der Norden, in dem die Musik der Sámi zu Hause ist. Treffpunkt aller drei Richtungen ist oft die renommierte Sibelius-Akademie in der Hauptstadt Helsinki, an der viele junge Musikschaffende studieren und während ihrer Ausbildung ermuntert werden, neue Wege zu beschreiten.

Es ist vor allem der Gruppe Värttinä und ihren ausdrucksstarken Frauenstimmen zu verdanken, dass finnischer Folk seit über dreißig Jahren eine feste Größe in der internationalen Folk- und Weltmusikszene wurde. Ausgangspunkt für Värttinä war die Musik Kareliens. Die letzte Platte der Formation erschien 2016, seitdem ist es um die Vorzeigegruppe recht still geworden. Karelische Musik aber lebt weiter, zum Beispiel in den Aufnahmen von Anne-Mari Kivimäki, die mit ihren minimalistischen Akkordeonklängen sowohl unter eigenem Namen aktiv ist als auch im Quartett Suistamon Sähkö, bei dem elektronische Klänge und Beats dem Ganzen Wucht verleihen.

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Maija Kauhanen

Foto: Antti Kokkola

Die finnischen Sámi aus dem hohen Norden sind bestens repräsentiert durch den Joikgesang von Wimme Saari und dem von Ulla Pirttijärvi, die nicht nur mit ihrer eigenen Gruppe, sondern auch im Duo Solju mit ihrer Tochter Hildá Länsman zusammenarbeitet. Länsmann wiederum ist ebenfalls in anderen Formationen tätig, mal unter dem Namen Vildá im Duett mit der Akkordeonistin Viivi Maria Saarenkylä, mal mit der rockigen Gruppe Gájanas.

Eine ganz andere musikalische Richtung erlebt man bei der Gruppe Sväng, einem Quartett, das ausschließlich mit Mundharmonikas arbeitet. Und da in Finnlands Musiklandschaft harter Rock eine wichtige Rolle spielt, ist es nicht verwunderlich, dass es in dieser Sparte auch Bands gibt, die finnische Traditionen verarbeiten. Pekko Käppi etwa tut genau dies mit seiner Band K:H:H:L, aber auch solo mit seinem Spiel auf der altehrwürdigen Jouhikko-Leier. Darüber hinaus gibt es noch zahlreiche andere Solokünstlerinnen und -künstler sowie Formationen, die sich teils ganz bodenständig und traditionell, teils provokant innovativ in der finnischen Folkszene tummeln.

Dass man heute südwestlich von Helsinki recht einfach Zugang zu finnischer Musik finden kann, ist auch dem Franken Christian Pliefke zu verdanken, der mehrere Labels mit unterschiedlichen Schwerpunkten betreibt und unter dem Namen Nordic Notes eine Fülle an finnischen Acts publiziert. Als Metalfan entdeckte er schon 1993 die finnischen Polkapunks Eläikeläiset und deren Humppa-Stil für sich, fand bald danach aber auch heraus, dass finnische Rootsmusik viel spannender ist, als er erwartet hatte.

Päivi Hirvonen

Foto: Antti Kokkola

Neben zahlreichen anderen Künstlerinnen und Künstlern aus Finnland hat er auch die Gruppe Okra Playground im Programm. Das Sextett, das sich 2010 gründete, hat bereits 2015 und 2018 erfolgreiche Scheiben auf den Markt gebracht und jetzt ganz aktuell seine von der Kritik hochgelobte dritte Platte Itku veröffentlicht. Nach einer personellen Veränderung vor einigen Jahren besteht die Gruppe nun aus einem Basis-Instrumentaltrio mit Veikko Muikku an Akkordeon und Elektronik, Sami Kujala am E-Bass und Oskari Lehtonen an der Percussion. In der ersten Reihe stehen jedoch drei Sängerinnen, die auch auf ihren Instrumenten glänzen: Essi Muikku an der Kantele, Päivi Hirvonen an Geige und Jouhikko, sowie Maija Kauhanen ebenfalls an der Kantele. Die Kantele, die es in verschieden Versionen mit unterschiedlicher Saitenanzahl gibt, ist eine Kastenzither und gilt als das finnische Nationalinstrument. Die Jouhikko kennt man seit Jahrhunderten und hat als gestrichene Leier mit bis zu vier Saiten einen ganz besonders erdigen Klang.

Sowohl Kauhanen als auch Hirvonen gehen im Spiel mit ihren Instrumenten nicht die üblichen Wege. „Ich habe auch klassische Musik gespielt“, sagt Hirvonen, „aber die Beschäftigung mit Folk hat meinen Geigenstil vollkommen verändert. Er besteht inzwischen aus einer Kombination archaischer Improvisation und neuerer Spielformen wie der Pelimannimusikki.“ Sie spiele heute rhythmischer als früher. Auch Kollegin Kauhanen hält sich beim Spielen nicht an althergebrachte Regeln. „Ich benutze moderne Akkorde auf der Kantele und benutze ein Gitarrenplektron. Manchmal setze ich Gitarreneffekte ein, und ich mag es, andere Instrumente wie Gitarre, Mandoline oder sogar Keyboard zu imitieren.“ Ihre Kanteles, die teilweise ganz speziell konstruiert sind, lässt sie sich von ihrem Vater Kari bauen. „In meinem Solospiel benutze ich eine 23-saitige Kantele mit zusätzlichen sieben Basssaiten, die mir die Möglichkeit eröffnen, auch Bassgrooves in mein Spiel zu integrieren.“ Solo bedient Kauhanen zudem eine ganz ausgefallene Kollektion aller möglichen Gegenstände, die sich für Percussion eignen.

„Durch die unterschiedlichen musikalischen Backgrounds der Mitglieder entsteht etwas Neues.“

Päivi Hirvonen und Maija Kauhanen Kauhanen haben praktisch zeitgleich mit der neuen Bandveröffentliching Soloalben herausgebracht. Auch die anderen Gruppenmitglieder sind in verschiedenen Ensembles oder solo aktiv und bringen ihre unterschiedlichen musikalischen Erfahrungen mit ein. Auf die Frage, was das Solospiel vom Musizieren im Bandgefüge unterscheide, bekunden Hirvonen und Kauhanen, dass allein zu spielen mehr Verantwortung, aber auch mehr Freiheiten mit sich bringe. Das Zusammenspiel in der Gruppe verlange musikalisch viel mehr Festlegungen. „In Solokonzerten“, so Kauhanen, „variiere ich meine Musik sehr oft und improvisiere. Dasselbe Stück kann einmal nur drei Minuten dauern und beim nächsten Mal acht Minuten. Auch experimentiere ich mit anderen Rhythmen oder Basslinien.“ Das gehe in einer Band so nicht. Das Spannende am Zusammenspiel bei Okra Playground ist für beide Musikerinnen jedoch, dass durch die unterschiedlichen musikalischen Backgrounds der Mitglieder etwas Neues entsteht. Ganz spezifisch am Stil der Gruppe ist laut Hirvonen, dass sich hier traditionelle mit modernen Instrumenten verbinden und sogar elektronische Klänge einbezogen werden. Im Bandgefüge verändere sich auch die Rolle der Kantele, ergänzt Kauhanen, weil sie zum Teil die Rolle einer Gitarre übernehme.

Das Repertoire besteht in zunehmendem Maße nicht mehr nur aus überliefertem Material, sondern aus Stücken, die Veikko Muikku, Maija Kauhanen und Päivi Hirvonen selbst schreiben. Wie viel an Überlieferung ist darin enthalten? Hirvonen beschreibt den Bandansatz so: „Ich würde sagen, dass unsere Inspiration und die Texte aus der älteren, archaischen Tradition kommen, wie vom Runo-Gesang oder der alten Kantele- und Jouhikko-Musik, die zwischen 1700 und 1800 entstanden ist und nicht so sehr aus der [moderneren; Anm. d. Verf.] Pelimanni-Tanzmusik.“ Letztere ist heute vor allem im Westen des Landes beliebt. Kauhanen konkretisiert: „Ein erheblicher Teil unserer Inspiration bezieht sich auf die Traditionen Ostfinnlands und Kareliens. Hier ist es üblich, dass viele Lieder nicht eine Strophe-Refrain-Struktur aufweisen, sondern dass eine ganz kurze Melodie in zahlreichen Variationen häufig wiederholt wird.“

„Unsere Inspiration und die Texte kommen aus der älteren, archaischen Tradition.“

In den Texten der klassischen Runo-Lieder verarbeitete man früher sowohl Heldenepen als auch Themen aus dem Alltag. Eine spezielle Runo-Form sind itku genannte Klagelieder– ein Begriff, den Okra Playground für den Titel des neuen Albums verwendet haben. Und tatsächlich finden sich auf der Platte zahlreiche Kompositionen, die sich mit beklagenswerten Problemen beschäftigen, beispielsweise mit der Coronapandemie, mit Umweltfragen und mit Krieg.

Trotz dieser inhaltlichen Ernsthaftigkeit ist der Sound der Gruppe keinesfalls durchgängig melancholisch. Kauhanen weist darauf hin, dass durch die unterschiedlichen musikalischen Prägungen der Bandmitglieder auch Elemente aus Rock, Progrock und Pop einfließen. So gibt es neben ruhigeren, balladesken Parts auch solche, die mit satter Klangfülle und offensiver Energie beeindrucken. Es ist aber längst nicht nur der Klang der Instrumente, der Okra Playground definiert, sondern in besonderer Weise sind es die starken Stimmen der drei Frontfrauen, sei es im Solo- oder Harmoniegesang.

Tradition und Moderne so zu verbinden, dass das Ergebnis weder altbacken noch banal poppig klingt, ist eine Kunst, die nicht jeder beherrscht. Okra Playground können das. Im Sommer 2022 begeisterte die Band das Publikum beim Nürnberger Bardentreffen. Bleibt zu hoffen, dass man sie bald auch in Deutschland wieder live erleben kann.

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Plattentipps:

Päivi Hirvonen, Kaillo (Nordic Notes, 2022)

Maija Kauhanen, Menneet (Nordic Notes, 2022)

Okra Playground, Itku (Nordic Notes, 2022)

Diverse, Nordic Notes Vol. 4 – Folk From Finland (Nordic Notes. 2017)

 

www.okraplayground.fi

www.varttina.fi

www.annemarikivimaki.fi

www.suistamonsahko.fi

www.facebook.com/wimme.saari

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www.hildalansman.com

www.solju.fi

www.facebook.com/gajanasofficial

www.facebook.com/viivimariasaarenkylaofficial

www.facebook.com/vildaduo

www.svang.fi

www.pekkokappi.com

 

Videolinks:

Okra Playground, „Kuun Ajo – Chasing The Moon“: www.youtube.com/watch?v=vgLEmii__Es

Okra Playground, Vorstellungsvideo: www.youtube.com/watch?v=xVm6jk49lzI

Päivi Hirvonen im Trio mit „Vanha Ja Vapaa“, live vom Kaillo-Releasekonzert am 26.8.2022: www.youtube.com/watch?v=N8tSQ7UPSAk

Maija Kauhanen, „Käärme“, live im Kapsäkki-Musiktheater in Helsinki, 2022: www.youtube.com/watch?v=N9hgQZTVSXc

Aufmacherfoto:

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