Anaïs Mitchell

Zurück aus dem Hades

31. August 2022

Lesezeit: 6 Minute(n)

Von der Songwriterin mit Gitarre in der Hand zur erfolgreichen Broadway-Komponistin und zurück – es ist ein erstaunlicher Weg, den Anaïs Mitchell gegangen ist.
Interview: Guido Diesing

Volle zehn Jahre ist es her, dass Anaïs Mitchell ein Album mit neuen Songs veröffentlicht hat. Nicht dass sie seit Young Man In America (2012) untätig gewesen wäre. Sie hat zwei Töchter geboren, als Mitglied von Bonny Light Horseman traditionelle Lieder gesungen und ihr Folkmusical Hadestown an den Broadway gebracht. Das Stück, das den Orpheus-Mythos in ein postapokalyptisches Amerika überträgt, wurde mit einem Grammy und acht [!] Tony Awards ausgezeichnet. Zu Beginn der Pandemie zog Anaïs Mitchell aus Brooklyn zurück in ihre ländliche Heimat Vermont. Das dort entstandene Album trägt schlicht ihren Namen als Titel und überzeugt mit überwiegend ruhigen und sehr persönlichen Songs zwischen Folk, Country und Pop. Und auch von Bonny Light Horseman gibt es bald Neues.

Anais Mitchell Foto: Jay Sansone 

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Ist das neue Soloalbum für dich eine Rückkehr in die Singer/Songwriter-Welt oder hast du diese Seite die ganze Zeit über gepflegt und nur nicht aufgenommen?

Ich war so lange auf Hadestown fokussiert, dass ich praktisch aufgehört habe, meine eigenen Songs zu schreiben. Manchmal habe ich hier und da an etwas herumgebastelt, aber es kam mir vor, als würde ich die Show damit „betrügen“. Es fühlte sich absolut wie eine Rückkehr an, meine Gitarre zu nehmen und jeden Song schreiben zu können, der mir aus dem Herzen kommen wollte, ohne an die Entwicklung von Handlungen oder Charakteren denken zu müssen. Es war sehr freudvoll, eine Offenbarung.

Es sind sehr persönliche Songs geworden. Fiel es dir leicht, wieder mit deiner eigenen Stimme zu sprechen, nachdem du zuvor in die Rollen mythischer Figuren wie Orpheus und Eurydike geschlüpft bist?

Schon vor Hadestown habe ich oft in Songs die Rollen anderer Charaktere übernommen. Es war viel von mir in den Liedern, aber irgendwie wollte ich nicht selbst die Erzählerin sein. Dieses Album ist die erste Sammlung ausschließlich mit meiner eigenen Stimme und Geschichte. Das war nicht so geplant, es ist einfach passiert, als ich nach Hause zurückgekommen bin. Auf eine Art habe ich meine Stimme wiedergefunden. Es hat wohl etwas damit zu tun, dass ich mich so lange mit diesen überlebensgroßen Figuren beschäftigt habe. Jetzt wollte ich eine Geschichte in Lebensgröße erzählen.

Gibt es Lieder auf dem Album, die dir besonders wichtig sind?

Aus irgendeinem Grund ist „Revenant“ [„Wiedergänger“; Anm. d. Verf.] einer meiner Favoriten. Ich denke, das liegt daran, dass das Lied für mich mysteriös bleibt. Es ist stark vom Haus meiner Großeltern inspiriert, in das meine Familie und ich während der Pandemie umgezogen sind. Viele Details darin stammen aus meiner Kindheit – die Haarlocke, die Kommodenschubladen, die Doldenblüten. Ich kann nicht genau sagen, wer der Wiedergänger ist – meine Oma oder ich oder ich selbst als kleines Mädchen.

Einige der Songs handeln von Entscheidungen und Veränderungen, vom Stadtleben zum Landleben, vom Kindsein zum Erwachsensein. Kann man das Schlussstück „Watershed“ als Zusammenfassung des Albums sehen?

Ja, ich denke, dass „Watershed“ eine Art Schlüssel zu den anderen Songs ist. Ich liebe dieses Wort sehr, und es bezieht sich nicht nur auf die metaphorische Wasserscheide, sondern auch auf ein Wandergebiet in der Nähe meiner Highschool. Das Wort sprach zu mir, weil ich das Gefühl hatte, an einem Wendepunkt meines Lebens zu stehen, von einer langen Wanderung im Wald aufzutauchen und zurück und voraus zu blicken.

„Ich wollte unbedingt etwas Neues erkunden, mich kreativ weiterentwickeln.“

Das Album klingt sehr gut ausbalanciert – zugänglich und beim ersten Hören eher einfach, aber auch liebevoll ausgearbeitet, wenn man genauer hinhört. Hat es viel Arbeit gekostet, dieses Gleichgewicht zu erreichen, oder hat es sich einfach so ergeben?

Das Album hat mein Bonny-Light-Horseman-Bandkollege Josh Kaufman produziert. Josh ist ein unglaublicher Multiinstrumentalist und eine sehr warmherzige, fokussierte Präsenz. Er vertraut darauf, die richtigen Leute zusammenzubringen, live aufzunehmen und dann in Echtzeit das richtige Arrangement zu erwischen. Wir haben unsere guten Freunde JT Bates und Mike Lewis, die auch auf unseren Horseman-Aufnahmen spielen, gebeten, unsere Rhythmusgruppe zu sein. Den Großteil der Platte haben wir zu viert live in einem wunderschönen, seltsamen alten Studio namens Dreamland im Hudson Valley aufgenommen. Wir hatten auch Aaron Dessner dabei, der ein paar Gitarren spielte, und Thomas Bartlett am Klavier. Später haben wir Nico Muhly gebeten, für einige Songs Arrangements für Streicher und Flöte zu schreiben, das waren die einzigen Sounds, die woanders aufgenommen wurden.

Foto: Jay Sansone 

Dein Weg von der Songwriterin zur vielfach ausgezeichneten Musicalkomponistin ist mehr als erstaunlich. Wie oft hast du selbst unterwegs gedacht: „Das kann nicht wahr sein!“?

Wenn ich mir Fotos aus der Zeit mit den Tonys anschaue, denke ich: „Ist das wirklich passiert? Wessen Leben ist das?“ Aber weil es bei Hadestown jahrelang Schritt für Schritt voranging, gewöhnten wir uns allmählich daran, dass dem Projekt immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Trotzdem, nichts hat mich auf den Premierenabend am Broadway oder die Erfahrung bei der Tony-Verleihung vorbereitet. Ich war ein Reh im Scheinwerferlicht.

War es danach schwer, Hadestown loszulassen und den Songs ihr Eigenleben zuzugestehen, oder eher eine Erleichterung, etwas hinter dir zu lassen, was enorm viel Zeit und Energie gekostet haben muss?

Beides. Ich wollte unbedingt etwas Neues erkunden, mich kreativ weiterentwickeln, nachdem Hadestown sich zu so etwas wie meiner ganzen Welt und kreativen Identität entwickelt hatte. Es war wirklich schwer herauszufinden, wie man das macht.

In deinem Musical hört man Blues-, Soul- und Gospel-Einflüsse. Ist das eine Welt, in der du dich schon immer zu Hause gefühlt hast?

Da kommen mehrere Dinge zusammen. Zum einen kommen unsere Arrangeure und Orchestratoren beide aus der Welt des Jazz. Michael Chorney brachte die Posaune und die Streicher ein – ein entschieden New-Orleans-mäßiger Sound. Auch Todd Sickafoose neigt zu üppigen Big-Band-Sounds. Es gibt viel Travis-Picking auf der Gitarre, was eine Art federnden Vibe hat. Ich merkte, dass diese gefühlvolle, bluesige Welt das Geschichtenerzählen sehr leicht machte, besonders für eine Figur wie Hermes. Der Call-and-Response-Stil fühlte sich wie ein sehr organischer Weg an, die Geschichte zu vermitteln und eine Art kollektives Storytelling-Erlebnis zu schaffen.

Wo wir schon bei deinen Einflüssen sind: Mit Bonny Light Horseman und noch mehr auf dem Album Child Ballads mit Jefferson Hamer beziehst du dich auf die große britische Balladentradition. Bist du damit aufgewachsen?

Ich erinnere mich, dass ich als Kind einigen der Child Ballads in einem Liederbuch namens Rise Up Singing begegnet bin, beliebt bei Hippies wie meinen Eltern. Später bin ich über Bob Dylan und Joan Baez auf weitere gestoßen, aber erst in meinen Zwanzigern, als ich viel durch Großbritannien und Irland getourt bin, habe ich mich Hals über Kopf in traditionelle Balladen verliebt. Sie haben in den letzten Jahren zu vielen meiner musikalischen Leidenschaften und Entscheidungen geführt, einschließlich der Gründung von Bonny Light Horseman.

Was können wir denn vom neuen Album von Bonny Light Horseman erwarten?

Auf unserer ersten LP waren hauptsächlich Bearbeitungen traditioneller Stücke. Die neue besteht aus selbst und gemeinsam geschriebenen Songs, obwohl einige von ihnen auf die Trad-Welt zurückgehen. Wir wollen, dass sie in der Auseinandersetzung mit den alten Songs leben. Wir waren begeistert von der Idee, uns in einer Art von zeitlosem Multiversum einzurichten, so ähnlich wie Robert Hunter mit seinen Songs für Grateful Dead. Wir freuen uns sehr, dies mit der Welt zu teilen.

anaismitchell.com

Aktuelle Alben:

Anaïs Mitchell, Anaïs Mitchell (BMG, 2022)

Bonny Light Horseman, Rolling Golden Holy (37d03d, 2022; VÖ: 7.10.2022)

Videolinks:

Anaïs Mitchell, „Watershed“: www.youtube.com/watch?v=QNC1bm68D3M

Anaïs Mitchell, vier Lieder: www.youtube.com/watch?v=ga2KHGX12Nk

Bonny Light Horseman, „Summer Dream“: https://www.youtube.com/watch?v=ucmf-MQPXzI

Aufmacher Foto:

Anais Mitchell Foto: Jay Sansone 

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