Jonas Simonson

Vom Glück eines schwedischen Folkmusikers

26. November 2019

Lesezeit: 6 Minute(n)

Die beachtliche Popularität der skandinavischen Folkmusik in Deutschland nahm Mitte der Achtzigerjahre mit den ersten furiosen Auftritten der schwedischen Folkband Groupa ihren Anfang. Flötist Jonas Simonson ist seit 35 Jahren nicht nur bei Groupa eine große Kreativkraft. Er gründete unter anderem die Gruppen Bäsk, Crane Dance Trio, Den Fule sowie das neue schwedisch-finnische Flötensextett Tuultenpesä. Und er leitet an der Universität seiner Heimatstadt Göteborg den Weltmusikstudiengang.
Text: Jens-Peter Müller

Man kann schon sehr neidisch werden, wenn man den Blick nach Skandinavien auf die Nachwuchsförderung und die Ausbildungsmöglichkeiten in den Genres Folk und Weltmusik wirft. In Schweden gibt es Angebote gleich an mehreren Orten: zum Beispiel in Stockholm, Malmö, Lund, Falun, Iggesund und in Göteborg. Anfang der Achtzigerjahre, als sich Jonas Simonson an der Musikhochschule in Göteborg einschrieb, sah die Folkwelt auch in Schweden noch anders aus. Querflöte konnte er nur als Instrument der klassischen Musik studieren. Als ihm immer mehr bewusst wurde, dass die Klassik nicht wirklich seine musikalische Heimat war, hatte er das Glück, die Musiker der 1980 gegründeten Band Groupa kennenzulernen. Er brach sein Studium ab und ging, wie er sagt, „bei Groupa in die Schule“.

Seine Lehrmeister waren der Gitarrist Hållbus Totte Mattson, Flügelhornspieler Gustav Hylén, Blockflötist und Bassklarinettist Bill McChesney, der Geiger Leif Stinnerbom und der Viola-d’amore-Spieler und geniale Komponist Mats Edén, mit dem Simonson heute im Trio mit dem norwegischen Percussionisten Terje Isungset die Groupa-Tradition weiterführt. Neben der Querflöte und den grifflochlosen Obertonflöten spielte er damals auch das Basssaxofon, eine weitere Farbe in dem revolutionären Folksound, den die Band kreierte. „Groupa heute ist vor allem ein künstlerisches, zu Beginn war es auch ein ideologisches Projekt. Wir wollten mit diesen Klängen und den eigenen Kompositionen etwas ganz Neues in die schwedische Spielmannsmusik bringen.“ Im Frühjahr dieses Jahres erschien das elfte reguläre Groupa-Album Kind Of Folk – Vol. 2, Norway. Es ist der Nachfolger der ersten Kind-Of-Folk-CD, die den Schwerpunkt auf Schweden gelegt hatte. Auf der Basis fast ausschließlich traditioneller Melodien öffnen die drei Virtuosen denen, die bereit sind, vorbehaltlos und konzentriert zuzuhören, eine Tür zu nordischen Klanglandschaften und meditativen Improvisationen.

Bei dem Stichwort „Improvisationen“ verweile ich im Gespräch mit Jonas Simonson, das wir nach dem Konzert der Gruppe Tuultenpesä beim diesjährigen folkBALTICA-Festival in Flensburg geführt haben, etwas länger. Den Begriff müsse man weiter fassen, über das hinaus, was man mit dem Jazz verbindet. „Ich habe schnell gemerkt, dass Jazz-Improvisationen im Sinne eines freien Spiels über eine Folge von Akkorden nicht zu meiner musikalischen Sprache gehören.“ Von Improvisation könne man zum Beispiel auch in der Klassik sprechen, allerdings mehr hinsichtlich des Bemühens, eine Melodie neu zu interpretieren. „Auch ein Musiker in der Klassik will das Erlebnis haben, dass jeder Tag ein neuer Tag ist“, meint er schmunzelnd. Vor allem aber sei Improvisation ein zentraler Bestandteil der Volksmusikkulturen. Das für die schwedische Volksmusik so typische intime Spiel zweier Fiddler lebe von Improvisationen. Bei der Melodie mehr als Form der Variation, die große Freude in dieser Musik aber liege in der weitgehend improvisierten zweiten Stimme. „Du hast die Freiheit, diese Stimme harmonisch immer neu zu gestalten. Es gibt eigentlich auch kein Rezept. Jeder Spieler hat seine eigene Art, und du lernst und entwickelst diese in der Praxis.“

Seit über 35 Jahren sind Jonas Simonson und Mats Edén bei Groupa und in anderen Formationen kongeniale Duopartner. Es ist eine besondere Form der minimalistischen Kunst, die das Trio erschafft, indem es eine unglaubliche Intensität und bisweilen auch eine hohe Dynamik hervorbringt. Gerade Terje Isungset als Percussionist sei dabei durch seine Erfahrungen mit Free Jazz und Naturklängen derjenige, der den Rahmen für das improvisierte Spiel der beiden Melodieinstrumente noch vergrößere, betont der Flötist. „Er ist mit seiner Spielweise entscheidend dafür verantwortlich, dass sich für uns über das Bearbeiten des Materials hinaus Freiräume für andere Dinge eröffnen, die uns und hoffentlich auch unser Publikum berühren, indem wir
glückliche Momente ausdehnen, Sequenzen verlangsamen und generell sehr präsent sein können.“

„Musik hilft Mauern abzubauen, Formen von Schüchternheit zu überwinden, die Masken fallen zu lassen.“

Wenn ich an Jonas Simonson und Mats Edén denke, tauchen Bilder von den vielen innig musizierenden Paaren auf, die mich bei meinen ersten Reisen Ende der Achtzigerjahre zu den großen Spielmannstreffen ins mittelschwedische Rättvik oder nach Bingsjö so faszinierten. Ist diese Zeit vorbei? So wie auch die großen Zeiten der Innovationen und Provokationen wie im Ethnorock von Totte Mattsons Hedningarna, von Bands wie Garmarna oder Den Fule, bei der Jonas Simonson heftig ins Basssaxofon blies, vorbei zu sein scheinen? „Doch, doch, bei den großen Treffen findest du immer noch diese intimen Begegnungen“, stellt Simonson klar, „aber häufig entwickelt es sich so, dass am Ende fünfzehn bis zwanzig Leute als eine große Jamsession zusammenspielen.“ Allgemein beobachtet er, dass es das soziale Element ist, das die jungen Leute heute hauptsächlich zur Folkmusik bringt, es sind nicht mehr diese aufbrechenden Fusion-Gedanken aus den Achtziger- und Neunzigerjahren. „Schau dir hier bei folkBALTICA die Folk-Big-Band Spöket i Köket an. Da stehen zwar Folk- und Jazzmusiker zusammen auf der Bühne, der Sound ist aber akustisch, und vor allem empfinden sie sich als Kollektiv.“ Das sei eine natürliche Reaktion auf das, was sich sonst so in der Gesellschaft abspiele, in der viele Menschen häufig nur sich selbst sähen. „Das Spielen in den Sessions ist für die Menschen bedeutsam. Sie empfinden es als sinnvoll, anderen Menschen auf diese Weise zu begegnen. Die Folkszene vermittelt ein familiäres Gefühl, und die Leute haben Lust, Teil dieser großen Folkfamilie zu sein.“

Groupa; Foto: Peter Lloyd

Es ist bekannt, dass Musizieren eine sinnvolle Tätigkeit für die Persönlichkeitsentwicklung und das seelische Wohlempfinden darstellt. Der erfahrene Mittfünfziger geht in Bezug auf die Folkmusik noch etwas weiter. „Es ist vielleicht ein Grundbedürfnis des Menschen, andere Menschen verstehen zu wollen, neue Menschen kennenzulernen. Die Musik hilft Mauern abzubauen, Formen von Schüchternheit zu überwinden, die Masken fallen zu lassen, die man so häufig aufsetzt, wenn man jemandem neu begegnet. Das verschwindet einfach. Es ist wirklich faszinierend: Wenn du in einer Session neben jemanden sitzt, den du noch niemals vorher getroffen hast, lernst du ihn auf eine andere Art kennen, als das sonst in einem gewöhnlichen Gespräch möglich wäre. Du spielst einige Stücke mit jemandem und bist mit ihm auf eine besondere Weise für ewig verbunden.“

„Auch das Nicht-Spielen, einfach mal still sein zu können, muss geübt werden!“

Auch im Weltmusik-Studiengang der Academy of Music and Drama an der Universität Göteborg, für den Jonas Simonson verantwortlich ist, geht es neben dem Kennenlernen von traditioneller Musik aus aller Welt und nicht westlicher klassischer Musik ebenfalls um grundlegende menschliche und musikalische Qualitäten. „Das Angebot orientiert sich an den Musikkulturen, die es in Schweden schon gibt. Die meisten Studierenden haben mindestens ein Bein in der nordischen Tradition. Aber es kommen auch viele Musiker mit Migrationshintergrund, die eine Ausbildungen wünschen und brauchen. Kurden, Syrer, Menschen vom indischen Subkontinent. Als wir hier anfingen, waren es häufig junge Leute, deren Eltern vor der chilenischen Junta unter Pinochet geflüchtet waren und in Schweden Asyl und eine neue Heimat gefunden hatten.“ Die Beherrschung eines oder mehrerer Musikstile, sei sie auch noch so perfekt, mache allerdings für die Pädagogen in Göteborg noch keinen guten, professionellen Musiker aus. Auf der Metaebene müssten allgemeine Fähigkeiten entwickelt und geübt werden wie Hören, Zusammenspiel, Rhythmus, Dynamik. „Und ganz wichtig: nicht zu spielen, ja, einfach mal still zu sein. Auch das muss geübt werden. Die Möglichkeiten, sich hier mit neuen Musikkulturen wie denen aus dem arabischen Raum oder den modalen Strukturen der klassischen Musik Nordindiens zu beschäftigen, sind natürlich großartig und sehr hilfreich auf dem Weg, ein aufmerksamer, flexibler Musiker zu werden.“

Richard Ekre Suzzi unterrichtet in Göteborg das indische Flöteninstrument Bansuri. Mit ihm und Göran Månsson, dem Spezialisten für die am tiefsten klingenden Formen der Blockflötenfamilie, spielt Jonas Simonson im Trio Zephyr. Bei einer Konferenz der nordischen Folk- und Weltmusikstudiengänge kam es vor einigen Jahren zu einem Zusammentreffen von Zephyr und der finnischen Gruppe Wind on Winds, in dem ausschließlich Frauen auf Flöten musizieren. Daraus entstand die Formation Tuultenpesä: vier finnische Frauen und zwei schwedische Männer mit mehreren Dutzend unterschiedlichen Flöten. Ein Abenteuer? Simonson überlegt: „Man braucht selber eine ganze Weile, um zu verstehen, was eine neue Gruppe eigentlich bedeutet, was man da tut. Wir lernen viel von den Reaktionen des Publikums. Die stilistische Bandbreite von uns allen ist riesig: rituelle Stücke der alten finnougrischen Runentradition treffen auf Hirtenmusik mit archaischen Naturtonskalen, Barockmusik und natürlich die Polska-Melodien der finnischen und schwedischen Volksmusik. Das avantgardistische Element mit akustischen Experimenten und freien Improvisationen spielt eine große Rolle – aber immer mit diesem folkigen Touch!“ In Flensburg haben die Leute gestaunt und viel gelacht. Tuultenpesä, noch ein Glücksfall in der Biografie des Jonas Simonson.

3

simonson.nu
hsm.gu.se (Academy of Music and Drama)

Aktuelles Album:
Groupa, Kind Of Folk – Vol. 2 Norway (All Ice Records, 2019)

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