Sessions im deutschen Nordwesten

„You can really make the fiddle talk“

7. Juli 2019

Lesezeit: 6 Minute(n)

Die sogenannte Session ist das Herzstück der traditionellen irischen Musik – auch in Deutschland. Bei einer irischen Session geht es allerdings um weit mehr als nur um Musik. Aus Tönen wird soziale Interaktion und schlussendlich eine Gemeinschaft. Ein exemplarischer Blick auf die Sessionlandschaft in Nordwestdeutschland.
Text: Jean-Oliver Groddeck

Der Schnoor an einem Dienstagabend im Februar. Es regnet, was in Bremen keine Seltenheit ist. Die kleinen Gassen und Fachwerkhäuschen des historischen Gängeviertels leuchten im orangenen Licht der Straßenlaternen. Wo sich bei Tageslicht tausende Touristen hindurchdrängeln, ist jetzt Ruhe eingekehrt. Aber nur scheinbar. Denn auf einmal erklingt ein Dudelsack hinter einem Fenster, bald darauf stimmen Bouzouki, Querflöte, Akkordeon und Fiddle mit ein. Wer durch das kleine Fenster hindurchblickt, sieht acht Musikerinnen und Musiker um einen kleinen Tisch herumsitzen. Sie haben ein Getränk vor sich stehen und spielen eine Tanzmelodie nach der anderen, sogenannte Tunes. Es ist das typische Setting einer irischen Session. Wobei irisch hier nur ein loser Sammelbegriff ist, denn die gespielten Tunes kommen auch aus Schottland oder Kanada, seltener aus England, Galicien, der Bretagne oder den Appalachen. Oftmals sind die Wurzeln nicht mehr zurückzuverfolgen. Jahrhundertealte Tunes werden ebenso interpretiert wie zeitgenössische Kompositionen.

Das Konzept einer irischen Session mutet zwar traditionell an. Tatsächlich entstand es erst in den Fünfzigerjahren, als irische Auswanderer sich in Londoner Pubs zu Sessions zusammenfanden. Die Bremer irische Session trifft sich jeden ersten Dienstag im Monat in einem der ältesten Bauten der Stadt: im Künstlerhaus Ausspann. Vor einem Jahr musste sie aufgrund der Schließung der Orange, Bremens traditionsreicher Gaststätte am Findorffmarkt, umziehen. Die kleine Kneipe war seit 2012 Treffpunkt für die Sessionmusikerinnen und -musiker gewesen. Bereits in den Neunzigerjahren hatte man sich dort zum Musizieren getroffen, und einmal hatten sogar die Dubliners nach einem Auftritt vorbeigeschaut. Allerdings ist der tatsächliche Austragungsort für eine Session nur bedingt relevant, denn anders als gemeinhin angenommen, darf eine Session auch außerhalb eines Irish Pubs stattfinden. Von viel größerer Bedeutung sind die Musikpraxis und das Gemeinschaftsgefühl. Und um dieses zu erleben, nehmen Interessierte teilweise lange Fahrzeiten auf sich und reisen aus über hundert Kilometer Entfernung an, beispielsweise aus Ostfriesland.

„Ein Jahr braucht man schon, um in eine existierende Session reinzuwachsen.“
Tilo Helfensteller

Ähnlich verhält es sich im nördlich von Bremen gelegenen Osterholz-Scharmbeck. Auch hier wird eine monatliche Session organisiert. Als Ort dient das Kulturzentrum im historischen Kleinbahnhof. Wie in Bremen wird die Session meist nur im privaten Kreis beworben, auf die Weise wird eine gewisse Intimität gewahrt. Dennoch sind Zuhörer gern gesehen, ebenso wie Gastmusiker oder Anfänger. Allerdings ist der Einstieg in ein derart komplexes soziales Gefüge zeitaufwendig. „Ein Jahr braucht man schon, um in eine Session, die bereits existiert und einigermaßen in sich ruht und läuft, reinzuwachsen“, erzählt Tilo Helfensteller, jahrelang Fiddler bei diversen Zusammenkünften.

Jede davon hat ihren eigenen Musikkanon, welcher sich stetig ändert. Neueinsteiger müssen sich diesen erarbeiten, um mitspielen zu können. Außerdem wird von ihnen erwartet, dass sie sich erst einmal hineinfühlen und etwas zurückhalten. Auf der anderen Seite sollten Anfänger von anderen Teilnehmern ermutigt werden, selbst auch mal eine Tune anzustimmen. Sofern diese bekannt ist, stimmen alle weiteren Musikerinnen und Musiker ein. Dieses gemeinsame Spiel vermittelt Sicherheit: Die Gruppe trägt nicht nur jeden Einzelnen, sondern zieht alle mit. Diese und weitere Aspekte einer Session sind Teil der sogenannten Session-Etikette. Die ist nirgends schriftlich fixiert, sondern entwickelt sich über die Jahre hinweg auf mündlicher Basis aus dem sozialen Kontext als informelle Regel heraus. Beispielsweise wird festgelegt, ob Gesangseinlagen gewünscht sind, da die Musik eher instrumental ist.

Tilo Helfensteller

Foto: Ingo Nordhofen

Die traditionelle irische Musik und ihre verwandten Musiktraditionen sind von Heterofonie geprägt. Das heißt, dass eine Melodie von mehreren Instrumenten unisono gespielt wird mit leichten Abweichungen in der Melodielinie. Eine strenge Mehrstimmigkeit ist eher unüblich. In den vergangenen Jahrzehnten wurden vermehrt Akkordinstrumente zur harmonischen Untermalung eingesetzt, wie beispielsweise Gitarre, Bouzouki oder Klavier. Rhythmische Untermalung bietet hauptsächlich die Bodhrán, die irische Rahmentrommel. Dennoch kann die Melodie mit ihren melodischen Feinheiten und ihrem Variationsreichtum auch ganz für sich alleine stehen. Das sei ein besonderer Aspekt traditioneller irischer Musik, meint Tristan Pargmann, Uilleann Piper bei der Session in Osterholz. „Eine Gesangslinie in der Popmusik wirkt ohne einen harmonischen Kontext ja relativ nackt. Das ist in der irischen Musik anders.“

Trotz der Heterofonie ist der individuelle Gestaltungsspielraum gerade in diesen Musiktraditionen sehr groß und besonders wichtig, denn Kreativität und Spontaneität spielen eine entscheidende Rolle. Sie zeigen sich zum Beispiel in punktuellen Variationen der Melodien oder der Verwendung von musikalischen Verzierungselementen, der sogenannten Ornamentierung. „Dadurch kriegt jedes Musikstück eine ganz persönliche Note. Und dadurch lernst du auf eine Art auch Charakterzüge eines Menschen kennen“, erklärt Jens Kommnick. Der in Wremen bei Bremerhaven lebende Multiinstrumentalist ist seit vielen Jahren semiprofessionell als Musiker unterwegs, unter anderem mit Iontach. Kommnick besucht trotzdem gelegentlich die Session in Osterholz. Fiddler Tilo Helfensteller hat ähnliche Beobachtungen gemacht wie er: „Das ist schon lange her, das war in Neufundland, Kanada, glaube ich, da meinte jemand zu mir: ‚You can really make the fiddle talk.‘ Das war richtig schön.“

„Bei jedem Sessionbeginn stehen alle Möglichkeiten offen, dass es vielleicht die schönste Session deines Lebens wird.“
Jens Kommnick

Diese Beobachtungen zeigen, wie sehr Musik als Kommunikationsmittel dienen kann. Entscheidend für die sich frei entfaltende Interpretation ist die Form des Lernens. Ursprünglich wurde die traditionelle irische Musik mündlich überliefert, das Aufnehmen erfolgte nach Gehör in einer Face-to-Face-Situation. Im neunzehnten Jahrhundert gab es im ländlichen Irland kaum eine andere Möglichkeit der Weitergabe. Außerdem spielte Musik eine übergeordnete Rolle im Alltag. Diese Art des Instrumentenlernens führt zwangsläufig zu hohem Variationsreichtum, denn keine Tune erklingt zweimal genau gleich. Hinzu kommt, dass „die Tunes dann auch besser in den Fingern liegen, also einfach auch besser dableiben, finde ich“, erläutert Tristan Pargmann. Zwar werden Noten zum besseren Einprägen der Melodien verwendet, in den Sessions selbst wird aber meist auswendig aufgespielt. So wird auch die nonverbale Kommunikation während des gemeinsamen Jammens gefördert und es ist viel einfacher möglich, sich anzuschauen oder gar ein Lächeln auszutauschen. Bedingt durch gesellschaftliche und technische Veränderungen werden heute allerdings eher Audioaufnahmen zum Erlernen verwendet, verstärkt aus dem Internet.

Wenn nicht musiziert wird, wird gequatscht. Auch der direkte soziale Austausch ist von hoher Wichtigkeit. Hinzu kommen kulinarische Genüsse, die wiederum nicht ausschließlich irisch sind. Während das Kuchenbuffet in Osterholz meist aus allen Nähten platzt, wird es in Oldenburg spanisch. Seit einem Jahr findet die monatliche Session im Café 22 statt, einem Flamenco-Café. Hier treffen irische Tunes auf spanische Tapas. Manchmal drängeln sich bis zu zwölf Musiker und Musikerinnen in der kleinen Lokalität. Richtig gemütlich wird es im Winter, wenn Cafébetreiber Daniel Jüdes den Kamin anzündet.

Auch im Flamenco-Café läuft die Session fern irischer Klischees ab. Die Beteiligten machen die irische Musik vielmehr zu ihrer eigenen. „Während des Spielens denke ich grundsätzlich weniger an irische Landschaften oder den Moornebel oder irgendein irisches Torffeuer, obwohl sich das vielleicht anbieten würde. Da denke ich dann eher an die Menschen, mit denen ich zusammen bin. Ich sehe oft ihre Gesichter“, erzählt Jens Kommnick. Anders ausgedrückt: Tunes können individuelle Assoziationen in Form von Geschichten und Erinnerungen speichern. Sie beziehen sich meistens auf die Personen, von denen die Tune gelernt wurde. „Dann bekommen die Tunes irgendwie ein Gesicht“, beschreibt es Tilo Helfensteller.

Die vergleichsweise kleine Anzahl von an irischer Musik interessierten Musikerinnen und Musikern in Deutschland und die geringe Dichte an Sessions erfordert, anders als in Irland, eine vorausplanende Absprache und Organisation. Dennoch gibt es keine übergreifende Informationsplattform für Sessions in Nordwestdeutschland. Anders ist das zum Beispiel in Hannover, wo monatlich sechs Sessions stattfinden. „Wenn Hannover Bremen wäre, wäre das super“, meint Tilo Helfensteller mit einem Augenzwinkern. Weitere Sessions im Nordwesten existieren in Hamburg, Neumünster oder Friesland-Wilhelmshaven. In Irland sind es dagegen über dreihundert Sessions in der Woche über die ganze Insel verteilt.

Ob in Irland oder in Osterholz – jede Session hat ihren eigenen Rhythmus und ihre eigenen Energieströme, besitzt ihre eigenen Praktiken und versteckten Rituale. Diese beziehen sich auf soziale und musikalische Aspekte. Und natürlich auf die Menschen, die mit dabei sind. Jens Kommnick: „Jedes Mal, bei jedem Sessionbeginn stehen alle Möglichkeiten offen, dass es vielleicht die schönste Session deines Lebens wird, man weiß es ja nicht. Und deswegen bleibt es faszinierend und spannend.“

Info:
Jean-Oliver Groddeck verfasste 2018 seine Masterarbeit im Fach Musikwissenschaft an der Universität Oldenburg mit dem Titel You can really make the fiddle talk – „Keltische“ Musik im Nordwesten Deutschlands.

Aufmacher-Foto:

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