Das Onlinefestival Sang und Klang

„Nächstes Jahr will ich das hier live haben“

26. September 2020

Lesezeit: 6 Minute(n)

Dieser Artikel hätte eigentlich gar nicht geschrieben werden dürfen – jedenfalls nicht von mir! Es gibt nämlich im ernst zu nehmenden Journalismus das ungeschriebene Gesetz der Distanz. Wie kann man diese wahren, wenn man an der Entstehung und Durchführung eines Festivals beteiligt gewesen ist? Ein Artikelangebot wie dieses würde der Folker normalerweise höflich, aber bestimmt ablehnen. Normalerweise, aber was ist heutzutage schon normal.
Text: Mike Kamp

Der Beitrag ist sogar ein Doppelschlag gegen diese Regel das Journalismus: Ich habe das erste deutsche Onlinefolkfestival Sang und Klang moderiert und der Folker hat es präsentiert! Daher also die Warnung vorweg, dass dieser Artikel in der Ichform geschrieben und daher wahrscheinlich höchst subjektiv ist. Aber eben auch notwendig, denn das Sang und Klang Festival verdient als einzigartiges Event innerhalb unserer Szene eine ausführliche Dokumentation in dieser Zeitschrift.

Ins Leben gerufen wurde das Prinzip eines Onlinefolkfestivals von dem Engländer Matthew Bannister. Der war lange Jahre ein BBC-Mann und als Radio-One-Leiter bei einigen Leuten nicht sonderlich populär, als er 1993 etliche bekannte und beliebte DJs entließ. Ab 2002 arbeitete er als Moderator bei BBC Radio Five Live. Nach seinem Berufsleben konzentrierte Bannister sich auf das, was ihm in Verbindung mit seinem letzten Job wirklich Spaß macht, und zwar postet er auf seiner Website folkonfoot.com Videos, in denen er seine drei Leidenschaften vereinigt: Folkmusik, Wandern und Geschichten erzählen. In jeder Episode spaziert er plaudernd mit einem Künstler durch Landschaften, die diesen bei seiner Arbeit inspiriert haben, und dann wird auch vor Ort musiziert. Bannister ist also gut vernetzt. Am 13. April und 25. Mai 2020 veranstaltete er zwei sogenannte Front Room Festivals. Die Creme der britischen Folkmusik lieferte exklusiv produzierte halbstündige Musikvideos und Bannister animierte moderierend die Zuschauer- und Hörerschaft zu Spenden für die durch Corona arbeitslos gewordenen Künstlerinnen und Künstler – ausgesprochen erfolgreich und immer noch abrufbar.

Diese Festivals sah die Cara- und Deitsch-Musikerin Gudrun Walther und dachte sich, so etwas müsste man doch auch hier in Deutschland auf die Beine stellen können. Nach intensiven Gesprächen mit ihrem Mann und Mitmusiker Jürgen Treyz kam die Erkenntnis: „Das wird nur passieren, wenn ich es selber angehe.“ Was dann folgte, kann man nur mit Wirbelwindaktivitäten beschreiben.

„Die Situation der Künstlerinnen und Künstler in Deutschland ist desaströs.“

Gudrun stellte in Windeseile ein Kompetenzteam zusammen. Sie selbst fungierte als Direktorin, die künstlerischen Leiter des Rudolstadt-Festivals (Bernhard Hanneken) und Bardentreffens (Rainer Pirzkall) als Programmbeiräte, ihr Kollege vom Artes Konzertbüro, Falk Bruder, als Finanzminister. Um Social Media und PR kümmerten sich Anne Gladitz, Carla Feuerstein und Sabrina Palm. Grafik und Design lagen in der Verantwortung von Eva Giovannini. Für den guten Ton, also die Audiotechnik, war Jürgen Treyz zuständig, und die alles entscheidende Videotechnik sowie die Websitebetreuung lagen in den kompetenten Händen von Franzi Müller und Steffen Gabriel. Dabei war sicherlich kein Zufall, dass die meisten im Team selbst Musikerinnen und Musiker sind. Profolk war in Person von Doreen Wolter als Mitveranstalter mit im Boot, und den Folker wollte Gudrun als Präsentator mit an Bord haben – drei Folker-Menschen (Cosima Hoffman, Stefan Backes und ich) taten das ihrige, um das Festival organisatorisch zu unterstützen.
Dann ging es Schlag auf Schlag: Festivalname finden, Line-up festlegen, Logo und Plakat erstellen, Website einrichten. Hinsichtlich des Programms wurde das Team gefragt: Wen wollt ihr dabeihaben? Einzige Kriterien, aus organisatorischen Gründen, aber auch als Bekenntnis zur hiesigen Szene: Deutschfolk oder Liedermacher. Ein enges Feld? Mitnichten, es war eine riesige Liste, die sich dann aus zwei Gründen lichtete: Welche Künstler haben mehrere Nominierungen? Und wo gibt es Überschneidungen geografischer und stilistischer Natur? Anschließend galt es natürlich herauszufinden, wer willens und in der Lage war, einen Videoauftritt in der Kürze der Zeit zu liefern. Deadlines einrichten, Verträge schließen und dann Werbung betreiben, was das Zeug hält. Alles unter enormem Zeitdruck, denn zwischen dem Startschuss des Projekts und dem Festivaltermin lagen gerade einmal sechs Wochen!

Weitere aufkommende Fragen: Wie sollen die Spenden verteilt werden? (50 Prozent an die zu unterstützenden Organisationen, 50 Prozent an die Künstlerinnen und Künstler sowie die Teammitglieder – zu Details siehe Website.) Welche Auftrittsreihenfolge ist die beste? Wann filmen wir meine Moderation? Wann kann Gudrun welche Künstler per Videochat interviewen? Wo und wie kann das Festivalmerchandising (T-Shirts, Tasse, Grillschürze) bereitgestellt werden, um zusätzliche Einnahmen zu generieren? Brauchen wir neben Paypal noch ein „richtiges“ Konto, um Spenden einzusammeln? All diese Aufgaben bedingen ein gut funktionierendes Miteinander, Egozocker oder Stinkstiefel wären eine katastrophale Bremse gewesen. Auch auf die Gefahr hin, als Beteiligter zu enthusiastisch zu klingen: Dieses Team war einfach großartig, es war kommunikativ, kreativ, kooperativ und kompetent – es hätte nicht besser harmonieren können!

Die Interviews mit den Musikern und Musikerinnen machten erneut deutlich: Egal in welchem Genre sie tätig sind, die Situation der Künstlerinnen und Künstler in Deutschland ist desaströs, und das Onlinefestival Sang und Klang und seine Erlöse sind nur ein ganz kleiner Tropfen auf einen sehr heißen Stein. Die Wurzel des Übels liegt im Stellenwert, der Kultur beigemessen wird, und ist sicherlich irgendwo in der Nähe der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Monika Grütters, zu suchen. Wie Guntmar Feuerstein korrekt bemerkte: Für die Regierung ist Kultur absolut nicht systemrelevant, ist sie purer Luxus und spielt entsprechend bei der Förderung eine bestenfalls untergeordnete Rolle. Das war schon vor der Pandemie eine zumindest ärgerliche Tatsache, zu Coronazeiten gipfelt eine solch missachtende Einstellung darin, dass den Künstlerinnen und Künstlern ihre Lebensgrundlage entzogen wird. Die eigenen Ersparnisse gehen berufsbedingt gegen null. Sängerin Andrea Pancur merkte an, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen helfen würde. Wie diffizil diese Problematik nicht nur für Künstlerinnen und Künstler ist, sondern auch für Technikerinnen und Backliner, machte Stoppok deutlich. Man wühlt sich durch unzählige Anträge, um zumindest bei Hartz IV zu landen, und wenn es dann doch ein, zwei kleinere Jobs für die Technik gibt, fällt man umgehend selbst aus dieser Minimalkategorie wieder heraus und steht vor dem Nichts. Heinz Ratz von Strom & Wasser trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er sagt, dass Musikerinnen wie Techniker zu Sozialfällen degradiert werden! Nicht nur Wenzel befürchtet, dass die Regierungsignoranz sehr große Schäden nach sich ziehen wird, und zwar nicht nur kulturelle.

Dann kam der 11. Juli, der Tag des Streams, und mit ihm eine gewisse Nervosität. Klappt die Technik für Twitter, Facebook und Youtube? Wie viele Menschen würden wir für die Idee begeistern können? Die ersten Spenden trudelten bereits vor dem Festival ein, das beruhigte ein wenig. Während der Ausstrahlung zwischen 16.00 und circa 23.00 Uhr befanden sich auf den verschiedenen Medien zusammengerechnet durchgehend rund 500 Menschen „live“ vor der virtuellen Bühne. Es herrschte ein reger und positiver Austausch zwischen Gästen und Festivalbetreuerinnen auf allen Kanälen. Andrea Pancur stellte sogar einen virtuellen Backstagebereich für Künstler und Mitarbeiterinnen bereit. Und als im Laufe des Festivals die lobenden Kommentare nicht nachließen und der Spendenstand wuchs, wurde allen Beteiligten klar: Wir müssen sehr viel richtiggemacht haben!

Alles ist natürlich relativ. Matthew Bannisters Front Room Festival zeigt den Unterschied zwischen deutscher und britischer Szene. Während wir doch ziemlich zufrieden sind mit bislang über 6.000 Zuschauern sowie rund 28.000 Euro (Stand: 20. August 2020) und noch auf die 30.000 hoffen, spielte in Großbritannien das erste Festival 110.000 Britische Pfund und das zweite immerhin noch 80.000 ein. Das ist zugegebenermaßen eine ganz andere Liga! Aber auch eine ganz andere Szene. Hinzu kommt, dass die Briten eine ausgesprochen intensive Spendenmentalität haben. Nichtsdestotrotz, das Sang und Klang Festival hat mir und wohl auch vielen anderen sehr deutlich gemacht, deutlicher vielleicht als sonst in den letzten Jahren, dass wir hier in diesem Land eine wunderbare, kreative, lustige, kritische Folk- und Liedermacherszene haben. Der Staat wird uns wahrscheinlich wohl auch weiterhin nicht maßgeblich fördern wie das in anderen Ländern der Fall ist. Nein, wir als Szene müssen noch stärker zusammenarbeiten und da ist Wenzel uneingeschränkt zuzustimmen, wenn er sagt, dass wir die solidarischen Gefühle in unserer Subkultur aufrechterhalten sollten. Die öffentlich-rechtlichen Medien haben uns bereits im Stich gelassen, aber wir dürfen uns dennoch nicht kleinkriegen lassen. Und ich persönlich möchte noch hinzufügen: Der Folker muss noch viel stärker das Medium dieser Zusammenarbeit sein.

Das Festival wird weiterhin online abrufbar sein (Website, Youtube, Facebook) und kann und sollte erlebt werden. Die Spendenaktion ist bei Erscheinen dieses Heftes weitgehend abgeschlossen, aber wem die Festivalauftritte gefallen, hat in den Shops auf den Websites der Künstlerinnen und Künstler jederzeit die Möglichkeit, solidarisch CDs, T-Shirts und dergleichen zu kaufen. Die Betroffenen würden sich freuen und es hilft ihnen.

Es war Stoppok, der auf seine unnachahmlich lässige Weise in Sachen Sang und Klang meinte: „Und nächstes Jahr möchte ich das hier live haben!“ Mal sehen, Stefan, mal sehen.

Videostill Interview Gudrun Walther mit Wenzel

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