Musiktherapie bei Long Covid (1)

Blasen, was das Zeug hält

1. September 2022

Lesezeit: 4 Minute(n)

Zu Beginn der Coronapandemie galten Blasinstrumente als Aerosolschleudern und damit als krank machend. Bei Long Covid können sie aber ein wertvoller Baustein der Gesundung sein. Ein Erfahrungsbericht.
Text: Ines Körver

Mitte Januar 2022 zog eine Coronainfektion bei mir den Stecker. Ich konnte regelrecht miterleben, wie die Krankheit meinen Körper flutete. Seit Pandemiebeginn war ich immer besonnen gewesen, hatte meine FFP2-Maske oft und korrekt getragen und im Homeoffice gearbeitet. In meine Wohnung hatte ich seit März 2020 nur handverlesene Gäste gelassen, viele Einladungen hatte ich abgelehnt. Ein einziges Mal war ich etwas leichtsinnig gewesen. Der Wiener Choro Klub war auf einer Tournee in Berlin und hatte mich gebeten, ihn bei einem Konzert mit meinem Cavaquinho zu unterstützen. Die Musiker und Musikerinnen sind grandios, den gemeinsamen Auftritt wollte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen. In der brechend vollen Location trug niemand Maske – ich auch nicht, als wir spielten. Wahrscheinlich hat es mich an diesem Abend erwischt.

Was ich nach der Infektion erlebte, haben so oder ähnlich Millionen Menschen mitgemacht. Warum darüber einen Artikel schreiben? Nun, ich weise drei Besonderheiten auf. Erst einmal hörte die Krankheit einfach nicht auf. Das muss man sich bei mir vorstellen wie den schlimmsten Tag der schlimmsten Grippe oder Erkältung, die man jemals hatte, nur dass er Monate dauert. An Arbeit oder ein Sozialleben war nicht mehr zu denken. Die festgetackerte Bronchitis, Schlappheit und Matschigkeit im Kopf – medizinisch: Multisystemisches Entzündungssyndrom, Fatigue und Brain Fog – diktierten den Alltag. Duschen, Mittagessen kochen, einkaufen, der Weg zum Arzt – einfachste Tätigkeiten werden in diesem Zustand zu Herausforderungen, die man gut planen muss. Andernfalls folgt zeitverzögert ein Zusammenbruch, der sogenannte Crash, der einen gefühlt um Tage oder Wochen zurückwirft.

Ines Körver, Daniel Stosiek, Ralf Neubauer

„Das Virus greift auch das Atemzentrum an. Das Hirn verlernt regelrecht, wie man atmet.“

Bei näherer Betrachtung hatte mich schon die zweite Impfung im August 2021 angeschlagen. Zwei Stunden nach dem Piks entwickelte ich Erkältungssymptome, mein Energielevel war seitdem spürbar niedriger und sank weiter. Ich litt also eigentlich am sogenannten Post-Vac-Syndrom („nach der Impfung“), das durch die Infektion noch erheblich verschlimmert worden war. Professor Bernhard Schieffer, einer der führenden deutschen Post-Vac- beziehungsweise Long-Covid-Spezialisten, erklärte mir dazu, dass es Menschen gibt, für die sowohl der Kontakt mit dem Impfstoff als auch mit dem Virus desaströs ist, weil diese Kontakte ein bereits vorhandenes Gesundheitsproblem demaskieren, das erst einmal gelöst werden müsste.

Die zweite Besonderheit: Ich verantworte beruflich eine wissenschaftliche gesundheitspolitische Fachzeitschrift. Ich hatte mich monatelang, manchmal fünf, sechs Stunden am Tag, mit Corona beschäftigt, über politische Maßnahmen berichtet, Tonnen von Artikeln und Studien gelesen. Ich wusste nur zu gut, dass es bislang kaum Therapiemöglichkeiten zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung gibt und Betroffene bis zu fünfstellige Beträge für Blutwäsche und andere Maßnahmen aus der eigenen Tasche bezahlen, um Long Covid loszuwerden.

Eine dritte Besonderheit ist, dass ich Multiinstrumentalistin bin. Im April hatte ich sporadisch wieder angefangen, auf meiner Darbuka, meinen Stahlzungeninstrumenten und meinem Cavaquinho Musik zu machen. Alle zwei Wochen versuchte ich, etwas Choro mit meinen Freunden Daniel und Ralf zu spielen. Ich hielt nie lange durch, war zu fertig. Musik erfordert ein hohes Maß an Koordination und Konzentration. Meist merkt man das in gesundem Zustand gar nicht, weil es so viel Freude macht.

Der Gamechanger kam im Mai: Völlig kontraintuitiv packte ich meine Querflöte aus. Kontraintuitiv deswegen, weil zuvor schon das kleinste Lüftchen die Bronchien wieder in Alarmbereitschaft versetzt hatten. Nach den ersten Tönen war ich entsetzt, wie krank sich der Oberkörper beim Musizieren anfühlte. Gleichzeitig war ich verblüfft, weil ich meinen gesamten Tonumfang vom C1 bis C4 mühelos abrufen konnte. Nach einer Viertelstunde hörte ich auf, denn die Bronchien schmerzten. Ich wollte erst einmal wissen, ob die Aktion einen Crash am nächsten oder übernächsten Tag provozieren würde. Als dieser ausblieb und ich mich im Gegenteil sogar erheblich wacher fühlte, fing ich nach zwei Tagen wieder an. Ende Juni bin ich bei anderthalb Stunden am Tag, verteilt auf eine Vormittags- und eine Nachmittagseinheit. Ich spiele viel in der dritten Oktave, weil das Kraft braucht, und langsame Stücke, weil das unter anderem durch den Einsatz von Crescendo, Descrecendo und Vibrato das Feingefühl bei der Atmung trainiert. Die Bronchien sind zwar noch spürbar krank, aber ich bin eindeutig fitter und kann auch schon mal rund zweieinhalb Kilometer an einem Tag gehen – was vor Kurzem noch undenkbar gewesen wäre.

„Das Flöten bringt mir das richtige Atmen wieder bei.“

Professor Bernhard Schieffer

Ich will wissen, was da passiert, und kontaktiere Professor Stefan Kölsch, einen studierten Geiger, Psychologen, Soziologen, Forscher und Autor des Buches Good Vibrations über die Heilwirkung von Musik. Ich frage, ob das Flöten wohl Hirn und Muskulatur mit dringend benötigtem Sauerstoff versorge und sich positiv auf den Parasympathikus auswirke. Kölsch schreibt: „Ja, wahrscheinlich.“ Aber er hat dazu bisher keine Studien gemacht. Daher befrage ich Professor Schieffer. Er sagt: „Alle unsere Long-Covid-Patienten hecheln. Das Virus greift auch das Atemzentrum an. Das Hirn verlernt regelrecht, wie man atmet.“ Ich hätte deswegen so viel Erfolg, weil das Flöten mir das richtige Atmen wieder beibringe. Noch effektiver sei es vermutlich, Klarinette zu spielen. Aber auch andere Blasinstrumente, Singen, Yoga und Spazierengehen mit bewusstem Atmen würden helfen, ebenso wie die Atemübungen des Vivantes-Klinikums. Die habe ich mir heruntergeladen und mache sie ab jetzt täglich. Weiterhin aber wird geblasen, was das Zeug hält.

In einem zweiten Artikel, der einige Monate später entstand, zieht Ines Körver noch einmal Bilanz hinsichtlich ihrer Erfahrungen in der Behandlungsunterstützung durch Blasinstrumente bei Long Covid.

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