Nikos Tsiachris

Frühling in Berlin

14. April 2022

Lesezeit: 4 Minute(n)

Der vielbeschäftigte Gitarrist, der sein aktuelles Album dem Frühling in seiner Wahlheimat Berlin gewidmet hat, wirkt im Gespräch gelassen, freundlich, offen, nachdenklich. Ein Soloalbum sei immer eine besondere Herausforderung, und die Vorbereitung nehme enorm viel Zeit in Anspruch. „Der Flamenco ist Hochleistungssport, Pausen kann man sich da kaum gönnen.“
Text: Rolf Beydemüller

Die Eltern stammten aus sehr armen Verhältnissen, der Vater hat sich das Gitarre spielen selbst beigebracht, daher sind dem 1979 geborenen Nikos der Klang der klassischen Gitarre und ihre Literatur von früh auf vertraut. Er hat viele Abende erlebt, an denen nach dem Essen musiziert wurde. Familien luden sich häufig gegenseitig ein, die Zimmer rauchgeschwängert, Lieder wurden gesungen, von Theodorakis und anderen populären griechischen Musikerinnen und Musikern. Diese besondere Art des Miteinanders prägte sich dem Jungen tief ein, eine Kommunikation ohne Worte, freudig und ein wenig geheimnisvoll.

Eine Kindheit in einem Tausend-Seelen-Dorf – da wird man als Vierzehnjähriger, der stundenlang an der Gitarre sitzt, schnell als „Alien“ betrachtet, da dieses besondere Interesse schwer zu vermitteln ist. Es sei leichter nachvollziehbar gewesen, sich zu betrinken, auf die Jagd zu gehen oder Fußball zu spielen. Sein Fortgehen habe ihm inneren Frieden geschenkt, es sei eine große Erleichterung gewesen. Und lachend fügt er hinzu: „Die meisten Menschen denken, dass wir Wurzeln haben. Mag sein, dass auch ich Wurzeln habe. Wenn die Wurzeln allerdings da sind, wo ich geboren wurde und aufgewachsen bin, dann habe ich ein Problem damit.“

„Ich muss das nehmen lernen, was das Leben mir bietet.“

Er ist immer allergisch gegen Institutionen gewesen, alles „Verschulte“ ist ihm fremd. Der inspirierende Kontakt zu einem Gitarrenlehrer vermochte ihn derart für die Musik zu begeistern, dass er sich schließlich entschied, die Musik zum Beruf zu machen. Die Jahre bis zum Diplom als klassischer Gitarrist an der Hochschule in Thessaloniki seien leider ein wenig langweilig gewesen, sagt er. Wettbewerbe zu spielen, um sich einen Namen zu machen, der gängige Weg klassischer Gitarristen und Gitarristinnen nach dem Studium, haben ihn nie interessiert. Er pausierte sogar erst einmal zwei Jahre, probierte sich an der E-Gitarre, spielte Cello. Mit 23 Jahren begann er, sich ernsthaft mit Flamencomusik auseinanderzusetzen. Was ihn schließlich für den Flamenco öffnete, beschreibt er als einen Zustand von „Sehnsucht und Depression“. Neben der offensichtlichen Begeisterung habe er große Zweifel gehabt. „Ist es mir überhaupt möglich, mich in diesem Genre professionell zu entwickeln? Wie lange wird das dauern?“ Fragen, die ihm heute auch seine eigenen Schülerinnen und Schüler stellen. „Die Antwort darauf muss ich mir selbst jeden Tag neu geben.“

Nikos Tsiachris war immer wieder in Spanien. Lernte die Sprache, konnte sich dank eines Stipendiums ein Jahr lang finanzieren. Seine Eltern hätten es gerne gesehen, wenn er nach Griechenland zurückgekehrt wäre, den Militärdienst abgeleistet hätte, Lehrer geworden wäre. Sie wünschten sich ein „sicheres“ Leben für ihren Jungen. Es ist anders gekommen. Die Liebe führte ihn 2005 nach Berlin. Das Leben ist größer als alle Pläne.

„Nach vielen schwierigen Jahren habe ich mich ab 2011 endlich sicherer gefühlt, eine Musikkarriere begann sich abzuzeichnen.“ Mit der Formation Rasgueo machte er 2012 nicht nur die Flamencoszene auf sich aufmerksam. Die überraschende, frische Verbindung aus Jazz und Flamenco öffnete dem jungen Gitarristen Türen. Auf bisher zwei Alben ist sie dokumentiert, Waterfall von 2012 und Echo von 2019.

„Mir scheint der nackte Begriff Flamenco zu begrenzt, um alle aktuellen Strömungen darin unterbringen zu können“, sagt Tsiachris. Es gebe den traditionellen Flamenco, Fusionen mit Jazz, Rock und Latin, modernen, sogar postmodernen und avantgardistischen Flamenco. Persönlich ist ihm bei aller harmonischen Freiheit die Verwendung der essenziellen, traditionellen Rhythmik enorm wichtig. Überhaupt, der Begriff der Freiheit. Was bedeutet Freiheit in diesem Spannungsfeld von Tradition und damit verbundener Gebundenheit? Im Wesentlichen ist das für Tsiachris die Freiheit von notierter Musik. Er möchte der Musik auf einer intuitiven Ebene verbunden sein, er liebt die Möglichkeit, seine eigene musikalische Welt zum Ausdruck zu bringen, als Komponist und Gitarrist.

Mit Anfang zwanzig habe er in alterstypischer Arroganz gedacht, das Leben gehöre ihm und er könne damit machen, was er wolle. Mit Anfang dreißig habe sich das umgekehrt. „Ich habe erkannt, dass das Leben viel größer ist, als ich dachte. Ich muss nicht alles definieren, ich muss keine Ziele erreichen, ich muss das nehmen lernen, was das Leben mir bietet.“

Auf dem neuen Album finden sich alte und neue Weggefährten, denen Tsiachris freie Räume für kreativen Ausdruck schafft. Etwa dem Gitarristenkollegen Rüdiger Krause im titelgebenden Opener, Alaa Zouiten an der Ud in der Soleá für „Maestro Vicente“ oder Jan von Klewitz am Saxofon in der abschließenden Bambera. Zum Schönsten gehören allerdings die solistischen Exkurse des Musikers, nach innen gewandt, lauschend, auch in den rasantesten Momenten höchster Intensität.

Seit 2020 arbeitet Nikos Tsiachris mit Ian Melrose und Rüdiger Krause im Trio Guitar Celebration zusammen und veröffentlichte mit den beiden im letzten Jahr das Album Onwards And Upwards. Die Verbindung verschiedenfarbiger Gitarrensounds, Nylon, Stahl und E-Gitarre, fasziniert Tsiachris schon lange und lässt perspektivisch spannende musikalische Erkundungen erwarten. Und auch wenn er nicht sucht, ist er doch ganz eindeutig ein Künstler, der findet. Die lässige und zugleich kraftvolle Eleganz seines Spiels ist staunenswert. Herrliche Gitarrenmusik, eloquent, ausdrucksstark, voller Herzenswärme und Tiefe. Und apropos Wurzeln: Wer innerlich so Heimat nehmen kann, ist auf der ganzen Welt zu Hause.

Aktuelles Album:

Primavera En Berlín (Galileo, 2021)

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