Das Thema Gesundheit in der Musik ist für Antje Valentin eine Herzensangelegenheit. Die seit März 2024 amtierende Generalsekretärin des Deutschen Musikrats hat es in ihrem neuen Amt daher auch zu einer Priorität erklärt. Zuvor war die studierte Pianistin und Pädagogin dreizehn Jahre lang als Direktorin der Landesakademie in Nordrhein-Westfalen tätig. Im Gespräch mit dem folker fordert sie ein radikales Umdenken in der Musikausbildung.
Interview: Erik Prochnow
Welchen Stellenwert hat das Thema Gesundheit unter Musikschaffenden?
Da gibt es viel Nachholbedarf. Laut Umfragen beginnen 25 Prozent der Erstsemester an den Musikhochschulen ihr Studium mit Schmerzen, die aus dem Instrumentalspiel resultieren. Andere Studien zeigen, dass 80 Prozent der Musikschaffenden in ihrer Karriere mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen haben, körperlich wie psychisch. Diese Zahlen sind erschreckend.
Woran liegt das?
Musikberufe sind sehr leistungsorientiert. Und überall wo Leistung ganz oben auf der Werteskala steht – wie in Chefetagen, dem Sport oder eben in der Musik –, versucht man, Krankheiten so lange wie möglich zu ignorieren. Irgendwann geht es aber dann doch oft nicht mehr, etwa wenn man mit einer fokalen Dystonie zu kämpfen hat. Dabei handelt es sich um nicht beeinflussbare Muskelkontraktionen, auch „Musikerkrampf“ genannt, die zu den häufigsten neuronalen Erkrankungen zählen.
Wie lässt sich diese Haltung verändern?
Indem wir schon in der Jugend anders ausbilden. In jungen Jahren kann der Körper zwar viel wegstecken, aber hier werden die Grundlagen für ein gesundes oder eben ungesundes Musizieren gelegt. Es stimmt zum Beispiel nicht, dass Spitzenleistung nur durch schmerzhafte Prozesse zu erreichen ist. Wer sich angewöhnt, gegen seinen Schmerz, seine Unkonzentriertheit, seine Müdigkeit zu üben, weil er denkt, Quantität sei wichtiger als Qualität, der festigt gesundheitsschädliche Verhaltensweisen. Gesund zu bleiben und ein Leben lang gesund Leistung zu bringen, ist dann möglich, wenn man von Anfang an lernt, seinen Körper wahrzunehmen, wenn etwas nicht stimmt, sei es mit der Stimme oder im Instrumentenspiel. Und wenn man sich ausreichend Pausen zugesteht sowie physiologisch angemessen übt. Ein Yehudi Menuhin hat sein Leben lang Geige gespielt. Er hat aber auch ganz viel Yoga praktiziert, was seine innere Haltung widerspiegelt. Vielen jedoch ist Üben wichtiger als etwa das Erlernen und Praktizieren einer Körpertechnik zur Schulung von Bewusstseins- und Entspannungsprozessen.
Die Verantwortung liegt also bei den Musikschulen?
Genauer bei den Lehrenden an Musikschulen, denn die Einstiegslehrkräfte legen den Grundstein, der dann später von den Hochschullehrenden weiter geformt wird. An den Musikhochschulen gibt es heute bereits viele Angebote für Methoden zur Körperwahrnehmung und Gesundheitsprävention wie die Alexandertechnik, Dispokinesis oder Feldenkrais. Das Problem ist, dass die Studierenden das Angebot jedoch nicht in großen Umfang wahrnehmen oder erst, wenn es fast zu spät oder zu spät ist. Zudem empfehlen die Hauptfachlehrenden oft nicht ausdrücklich die Teilnahme. Dieses Training müsste von Anfang an integraler Bestandteil der Ausbildung sein. An der Musikakademie Schloss Kapfenburg in Baden-Württemberg wird deshalb das Programm „Gesunde Musikschule“ angeboten. Musikschulen können dort Fachleute für die Gesundheitsprävention ausbilden lassen und ein Zertifikat erwerben. Immer mehr Schulen nehmen das Angebot wahr.
Realisiert das professionelle Musikbusiness, dass Leistung gerade erst durch Gesundheitsfürsorge möglich ist?
In meiner über dreißigjährigen Erfahrung nehme ich eine Veränderung wahr. Das Thema gewinnt an Bedeutung. Wir haben zunehmend Institute für Musikermedizin wie an der Charité in Berlin oder an den Musikhochschulen in Freiburg oder Hannover und an vielen anderen Stellen, die genau die Frage im Blick haben: Wie geht man mit Musikschaffenden um, die sich in eine Erkrankung hineingeübt haben? Nichtsdestotrotz muss etwa die Prophylaxe, die Gesundheitsfürsorge in Orchestern viel ernster genommen werden. Der Deutsche Musikrat fordert daher neben angemessenen Proberäumen gymnastische Angebote, Coaching bei psychischen Problemen, Hör- und Schallschutz. Zudem erhalten die Angestellten von Orchestern oft über Berufsgenossenschaften medizinische Angebote. Bei Krankheit werden die angestellten Musikschaffenden auch weiterbezahlt. Für Selbstständige und Freiberufliche, die oft unter großem finanziellem Druck stehen, gilt das allerdings nicht.
Welche Forderungen gibt es da seitens des Deutschen Musikrats?
Durch die Coronapandemie ist der Öffentlichkeit bewusst geworden, wie fragil und prekär, ja oft auch selbstausbeuterisch freiberufliche Musikerinnen und Musiker arbeiten. Deshalb gibt es die Forderung nach Honoraruntergrenzen bei öffentlicher Förderung. Auch gibt es Überlegungen, freiberufliche Musikschaffende über die Arbeitslosenversicherung oder die Künstlersozialkasse für den Fall der Arbeitslosigkeit zu schützen. Viele Musikerinnen und Musiker befinden sich aber auch in einer prekären Lage, weil ihnen wichtiges Wissen fehlt, wie man selbstständig erfolgreich ist. Deshalb fordern wir, dass bereits im Studium vermittelt werden muss, wie das Vertragswesen funktioniert, wie Honorarverhandlungen geführt werden, wie man der Künstlersozialkasse beitritt, wie man seine Musik bei der GEMA oder der GVL schützt und so weiter. All das sind Aspekte der Gesundheitsvorsorge.
Welche Bedeutung hat die gesundheitsfördernde Wirkung der Musik im Amateurbereich?
Bei Nichtprofis wirkt der ganzheitliche Aspekt der Musik auf die Gesundheit, weil hier der Leistungsdruck keine so große Rolle spielt – sie profitieren also deutlich mehr. Musik verbindet gleichzeitig motorische, emotionale und kognitive Fähigkeiten und spricht alle Sinne und den gesamten Organismus an. Musizierende lesen Noten, erkennen die Akkorde, analysieren das Gehörte, verbinden es mit emotionalem Ausdruck und müssen dabei noch auf die Feinmotorik, den Atem oder die Hände und Füße achten. Körper, Geist, Seele sind auf ein Ziel fokussiert. Das lässt eine Ganzheit erfahren, die gesundend wirken kann. Und wenn das zugleich mit anderen passiert, spüre ich das soziale Miteinander auf einer anderen Ebene als dem Sprachlichen. Mit anderen zu musizieren und etwas Gemeinsames zu erschaffen, ist ein tiefes Erlebnis, das auch noch sehr ästhetisch sein kann.
Das gilt doch aber auch für Profis?
Ja, und wenn sie es gut machen, sind sie glücklich und gesund. Bei ihnen stellt sich eher die Frage, wie die Berufsrealität aussieht. Was wird von ihnen erwartet? Wie viele Dienste müssen sie als Orchestermitglieder leisten? Wie viele musikfremde Aufgaben stehen für Selbstständige an, um Aufträge zu bekommen? Wie viel Verwaltung, Büroarbeit oder Reisetätigkeit ist notwendig? Wirklich gute Kulturschaffende machen das gerne. Sie haben Disziplin und versprühen Freude, wenn sie auf der Bühne stehen. Der Stressfaktor für Profis ist, dass man möglichst keine Fehler macht. Musizierende aus dem Amateurbereich können auch mal einen schlechten Tag haben und profitieren dennoch.
„Die Musikausbildung muss sich ändern“
Wodurch?
Den sozialen Zusammenhalt. Menschen, die sich sonst nie treffen würden, kommen über Musik zusammen und entwickeln neue Fähigkeiten. Ob es das sozialpädagogisch geführte Jugendangebot etwa in Form eines Bandprobenkellers ist, die musikalische Sprachentwicklung in den Kitas oder auch das integrative Angebot für Geflüchtete: Überall ist die Musik wichtig, weil der Mensch in seiner Gesamtheit wahrgenommen wird. Wenn nur gelernt wird, was beruflich verwertbar ist, wenn Menschen nur in Teilaspekten angesprochen werden und so arbeiten, werden sie aus meiner Sicht schneller krank.
Gibt es denn dafür genug musikpädagogische Fachkräfte?

Nein. Die Nachfrage nach musikpädagogischen Studiengängen, auch für Instrumental- und Vokallehrkräfte, ist rückläufig. Deshalb hat der Deutsche Musikrat gerade eine Kampagne in den sozialen Medien gestartet, um junge Menschen zu überzeugen, dass Musikpädagogik und auch die Musiktherapie spannende und erfüllende Berufe sind. Der Titel lautet: „Zukunft braucht Musik. Zukunft braucht Dich.“ Um zu verstehen, wie wichtig Musik für die Gesundheit und die Gesellschaft ist, muss man sie selbst erleben, selbst singen oder ein Instrument spielen. Deshalb müssen wir rausgehen und mit Menschen Musik machen.
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