Ganna Gryniva

Divers, kreativ, grenzenlos

19. März 2024

Lesezeit: 5 Minute(n)

Seit 2002 lebt die ukrainische Sängerin Ganna Gryniva in Deutschland. Ihre Musik ist grenzenlos, allerdings ist sie sich ihrer Wurzeln sehr bewusst. Ein Porträt über eine eigenwillige Künstlerin.
 Text: Wolfgang Weitzdörfer

Die Ukraine ist nach wie vor in aller Munde. Allerdings aus furchtbaren Gründen – und genau genommen den falschen, wenngleich fraglos wichtigen. Denn es wird nicht über die Kultur und die Menschen berichtet und geredet, sondern vor allem über den verbrecherischen russischen Angriffskrieg. Dabei gibt es in der Ukraine so viel zu entdecken. Zum Beispiel die Musik von Ganna Gryniva, die zwar bereits vor über zwanzig Jahren mit ihren Eltern aus ihrer Heimat nach Deutschland emigrierte, die ukrainische Folklore aber auch nach dieser ganzen Zeit in Berlin als Kern ihrer Musik bezeichnet. „Die alten Lieder sind das wesentliche Element meiner Kompositionen. Aber natürlich stecken in ihnen gleichzeitig auch alle möglichen anderen Einflüsse – von Radiohead bis Moderat“, sagt die 34-Jährige. Und natürlich auch die Ukraine und Berlin. Dabei ist sie mit klassischer Musik großgeworden. Die Mutter ist klassische Pianistin, zu Hause hat die kleine Ganna vor allem Bach, Mozart und Beethoven gehört.

Bis zur heutigen Musikerin, deren Arbeit keine Grenzen mehr kennt, sondern die, im Gegenteil, mit ihnen spielt, sie verschiebt und so aus Bekanntem etwas ganz Neues erwachsen lässt, ist es noch ein weiter Weg. Der führt nicht nur aus der Oblast Kiew, wo sie bis zu ihrem dreizehnten Lebensjahr lebt, nach Deutschland, sondern auch über erste Klavierstunden bis zu Gesangsunterricht, wobei sie sich hier ebenfalls im eng festgesteckten Rahmen der klassischen Musik bewegt. Zu eng, wie sich bald herausstellt. „Ich fand in der klassischen Musik nie genug Freiheit für den Ausdruck eigener Ideen“, sagt Ganna Gryniva. Sie ist schon über zwanzig Jahre alt, als sie erstmals Ella Fitzgerald hört. „Mir war sofort klar, dass ich lernen muss, wie man so singen kann. Ich war total fasziniert von der Art, wie sie ihre Phrasen formte, die Melodien abwandelte und nicht über der Musik schwebte, wie ich es sonst vom Gesang kannte, sondern mittendrin war“, beschreibt sie dieses Erweckungserlebnis.

Ganna live beim Jazzweekend Regensburg

Foto: Andreas Daschner

„Diversität ist eine großartige Chance.“

Ganna Gryniva

Foto: Dovile Sermokas

Dem folgt die Beschäftigung mit der Jazzmusik, eine Ausbildung an der Musikschule Friedrichshain-Kreuzberg und dann ein Studium an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar. Und dann werden die Karten endgültig neu gemischt. „Ich habe realisiert, dass ich meine Fähigkeiten und das musikalische Wissen als Werkzeuge nutzen kann, um meine eigene Geschichte zu erzählen. Und so fing ich an, ukrainische Folklorelieder zu arrangieren“, sagt die Musikerin. Dafür betreibt Ganna Gryniva eine Menge Aufwand. „2018 war ich in der Ukraine und habe Folkloresänger:innen interviewt. Es gibt hier ein enormes Wissen, das über mehrere Generationen mündlich weitergegeben wurde. Ein Lied kann von unterschiedlichen Sänger:innen mit ganz verschiedenen Bedeutungen und Geschichten versehen werden“, erklärt sie. Die Verinnerlichung dessen führt auch dazu, dass sie sich selbst viel besser kennenlernen kann, indem sie sich auf die Musik einlässt.

Wenn man sich das aktuelle Album Kupala anhört, auf dem Gryniva ihre Arbeit der vergangenen sechs Jahre als Soloperformerin zusammengefasst hat, geht einem tatsächlich der Begriff der „Grenzenlosigkeit“ durch den Sinn. Seien es die Loops, Effekte und Samples, die die Stücke zu einem wabernden Organismus werden lassen, sei es die Stimme, die bisweilen wie ein weiteres Instrument eingesetzt wird, nur um dann wieder elfengleich zu erklingen. Hier musiziert eine Frau, die in sich ruht, so erweckt es den Anschein. Und das schlägt sich auch in ihrer persönlichen Einstellung zur Musik, zu Stilarten, zu Konventionen nieder. „Ich habe keine Vorbehalte gegenüber Musikstilen. Wenn mich etwas berührt, ist das das Einzige, was zählt.“ Dazu passt natürlich, dass Ganna Gryniva Diversität als „großartige Chance“ bezeichnet. „Die Musik kann durch Einflüsse verschiedener kultureller Hintergründe nur profitieren. So kann man immer weiter Neues lernen und auf unterschiedlichste Weise inspiriert werden“, schwärmt sie. Daneben werde sie vor allem durch die Natur, die alten ukrainischen Trachten und Malerei inspiriert. Und durch etwas, das nach dem offiziellen Ende der Coronapandemie zum Glück wieder auf dem Vormarsch ist: „Livekonzerte! Sie inspirieren mich wahrscheinlich am meisten.“

Künstlerinnen und Künstlern wird ja oft eine gewisse Naivität in ihrer Sicht auf die Geschehnisse in der Welt nachgesagt. Davon ist bei Ganna Gryniva indes nichts zu merken. Reflektiert, realistisch, aber immer auch den Aspekt der Hoffnung im Blick. „Ich glaube, dass Musik ein kraftvolles Tool ist, um Schmerz zu verarbeiten oder Geborgenheit zu vermitteln. Gemeinsames Singen kann ebenfalls Zusammenhalt und Hoffnung geben, Musik kann in den Menschen etwas wecken. Aber um wirklich etwas zu verändern, muss man schon bewusst aktiv werden. Das kann am Ende weder die Musik noch sonst irgendetwas für einen übernehmen“, sagt sie. Wohl aber kann man darüber singen. „In den alten ukrainischen Liedern findet man viel Geschichtsschreibung, auch die Themen sind in unterschiedliche Genres aufgeteilt: Erntelieder, Winterlieder, Hochzeitslieder – auch Kosakenlieder. Mit den letzteren ehren wir die Leben der Menschen, die für den Frieden in Europa an die Front gehen“, sagt die Sängerin.

Mit ihrer eigenen Musik möchte sie auch ein Stück dazu beitragen. „Ich versuche in meinen Liedern immer, Stärke und das Bejahen des Lebens zu sehen und zu geben“, sagt Ganna Gryniva. „Ich liebe es, Lieder über das Leben, die Liebe und die Lebensfreude zu singen und all meine Hoffnungen da hineinzulegen.“

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Aktuelles Album: Kupala (Berthold Records, 2023)
Videolinks:
GANNA Ensemble – „Plyve Kacha“ („Пливе Кача“) live im Jazzclub A-Trane in Berlin, März 2023:

 

GANNA Ensemble – „Witer“ live im Berliner Humboldt-Forum in der Reihe „Durchlüften“, August 2022:
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Aufmacher:
Ganna Ensemble

Foto: Dovile Sermokas

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