SONiA disappear fear

Musikerin mit Empathie und klarer Haltung

19. März 2024

Lesezeit: 4 Minute(n)

Neues Album, neue Tour und eine Autobiografie: Die queere US Singer/­Songwriterin SONiA disappear fear ist aktiver denn je und bleibt sich und ihrem Verständnis von Frieden und Völkerverständigung treu.
Text: Thomas Waldherr

In Deutschland ist sie jedes Jahr auf Tour und hat sich in den vergangenen Jahren eine treue Fangemeinde erspielt. Denn die kleine, zierliche und temperamentvolle Frau begeistert mit ehrlichen und engagierten Texten, schönen Melodien und einer mitreißenden Bühnenperformance.
1987 gründete Sonia Rutstein alias SONiA disappear fear mit ihrer Schwester Cindy in Baltimore die Folk-Power-Pop-Band disappear fear, die fünf Alben veröffentlichte, ehe sie sich 1996 auflöste. Seitdem ist SONiA vorwiegend als Solokünstlerin unterwegs. Ihre Songs handeln von der Liebe und dem Leben als queere Frau, von Frieden und dem Kampf gegen Krieg, Unterdrückung und Rassismus. Eines ihrer musikalischen Vorbilder ist der legendäre und viel zu früh verstorbene Phil Ochs. Dabei ist die mehrfach Grammy-nominierte Musikerin die Cousine eines ehemaligen Weggefährten von Ochs, des Singer/Songwriter-Papstes und Literaturnobelpreisträgers Bob Dylan. Ihre gemeinsame Tante Harriett Rutstein brachte dem jungen Robert Zimmerman das Klavierspielen bei. Und wer sie auf der Bühne mit Gitarre sieht, der stellt schon eine gewisse Familienähnlichkeit fest.

Nun hat SONiA disappear fear ihr 23. Album veröffentlicht und es schlicht Album 23 genannt. Weggefährten und Freundinnen wie Mary Gauthier oder Noel Stookey (der „Paul“ von Peter, Paul & Mary!) haben das Werk in höchsten Tönen gelobt, und man kann ihnen nur recht geben. Unverändert ist ihre Musik einnehmend und mitreißend, sind ihre Texte einfühlsam und einfallsreich. „Ich bin sehr stolz, dieses Album präsentieren zu können“, sagt sie. „Es erzählt von meiner Lieblingseissorte – Pistazie – in ‚Thumbs‘ bis hin zu Themen wie dem Klimawandel. Oder von der nutzlosen Notwendigkeit, Kriege zu führen, in ‚Fried Chicken Chairs‘ und ‚God Bless The World‘, von einem verzweifelten ‚Want Me‘ in einem langsamen, schmerzenden Blues bis zum skurrilen Pop von ‚Teaching Vincent Van Gogh (How to Play the Piano)‘. Und der himmlische Retrosound von Yes, der britischen Band der Siebziger/Achtziger, trifft auf disappear fear im Titeltrack ‚23‘.“

 Besonders eindringlich ist „I Can’t Breathe“. Ausgehend vom Tod George Floyds 2020, hat SONiA Woody Guthries Hymne des anderen Amerika, „This Land Is Your Land“, auf Moll umgeschrieben und den Text verändert, in dem sie an die Toten aufgrund rassistischer Gewalt in den USA erinnert. In der Realität gehört das Land eben leider immer noch nicht allen. Es wurde, so verrät die Musikerin, mit den beiden Singer/Songwriterinnen Hanne Kah und Lea Morris aufgenommen, die jeweils Back-up-Vocals beisteuerten. Kah lebt im rheinland-pfälzischen Diez, die Amerikanerin Morris in Meine bei Gifhorn. Kurzum: Auch mit ihrem 23. Album bleibt SONiA disappear fear kreativ wie eh und je und macht Musik für Bauch und Kopf, Seele und Herz.

Diese neuen Songs wird sie dann im Frühjahr wieder auf Tour in Deutschland vorstellen. „Ich kann es kaum erwarten“, bringt sie ihre Vorfreude zum Ausdruck. „Einige Lieder werde ich auf dem Klavier spielen, andere auf der Gitarre. Vielleicht habe ich diesen Frühling meinen Schlagzeuger Marc Lawrence und meinen Bassisten Chris Sellman für einige Shows dabei.“ Dazu, dass sie so oft in Deutschland spielt sagt SONiA: „Ich liebe es, hier zu spielen. Da besteht für mich eine besondere Verbindung. Vielleicht liegt es daran, dass ich eine Abstammungsverbindung spüre. Vor allem aber denke ich, dass es das Maß an Respekt ist, das Musikschaffenden in der deutschen Kultur entgegengebracht wird … Mein Großvater wurde in Rumänien mit dem deutsch-österreichischen Namen Rutstein geboren. Im Klartext bedeutet Rutstein ‚Wurzelstein‘, also ist Deutschland so etwas wie mein Grundpfeiler. In gewisser Weise fühle ich mich hier mehr zu Hause als in meinem eigenen Land.“

Doch nicht nur die neue Tour und das neue Album beschäftigt sie, seit einigen Jahren arbeitet sie auch intensiv an ihrer Autobiografie, deren Erscheinen für Ende 2024 oder Anfang 2025 vorgesehen ist. „Es ist ein sehr aufwendiges Projekt, und ich arbeite seit Sommer 2019 daran. Ich habe Tagebücher geführt, aber in jedem Kapitel – und es sind jetzt zwanzig – sehe ich, dass ich Situationen aus einer anderen, älteren Perspektive betrachte, sodass ich die Erfahrung am Ende wieder neu aufschreibe“, beschreibt sie den nicht ganz einfachen Arbeitsprozess.
Wichtiger Teil ihrer Lebensgeschichte ist ihre Identität als jüdische, lesbische Frau. Die eine Zeit lang brauchte, um offen lesbisch zu leben. „Als ich 22 war, spielte ich in einer Band, als die Bassistin Susan und ich uns verliebten. Es war auf die spektakulärste Art und Weise überaus euphorisch. Ich schaute zurück auf die traurige, einsame Sonia und schwor, meine Seele mit ‚Love Out Loud‘ zu teilen und dafür zu sorgen, dass es nie wieder eine Sonia geben würde, die ein einsamer kleiner schwuler Junge oder ein einsames kleines Mädchen war. Ich war ein lesbisches Mädchen gewesen, das sich für seine Liebe geschämt hatte.“

Sie ist sich des Jüdischseins in einer Welt, „in der Juden zu einem gewissen Teil ausgegrenzt werden“, sehr bewusst. In Deutschland hat sie daher auch schon in Synagogen gespielt. Auf den Anschlag der radikalislamischen Hamas auf Israel und den folgenden Vergeltungsschlag reagierte sie auf ihre Weise: „Als ich mich umsah und hoffte, dass jemand eine Hilfsleistung für die Opfer des Krieges organisieren würde, tat es niemand.“ Deshalb beschloss sie am 14. Oktober, ihr eigenes Friedenskonzert zu organisieren. Und zwar für die israelischen und die palästinensischen Opfer. „Der Erlös des Konzerts wurde an vier Organisationen gespendet: zwei Gruppen – eine jüdische, eine palästinensische –, die sich für eine friedliche Lösung einsetzen, und zwei Gruppen, die den Verlorenen und Flüchtigen aus Gaza helfen.“

 So bleibt SONiA disappear fear sich auch nach mehr als vierzig Jahren im Musikgeschäft treu als mitfühlende, queere Aktivistin für Frieden und Völkerverständigung sowie gegen Hass, Menschenfeindlichkeit und Gewalt. Und natürlich als großartige Musikerin.

Aufmacher:
SONiA disappear fear

Foto: Lea Morales

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