Die Präsidentschaft von Donald Trump, die damit einhergehende Polarisierung und die immer offener zutage tretenden Widersprüche und Ungleichheiten innerhalb der US-Gesellschaft haben die dortige Musikszene in den letzten Jahren politisiert wie lange nicht. Dies nahm durch die Ereignisse im Frühjahr – Coronakrise, wirtschaftliche Rezession, Widerstand gegen Rassismus und Polizeigewalt – noch einmal kräftig an Fahrt auf. Werfen wir einen Blick auf diese jüngeren Entwicklungen in Folk, Country und Americana.
Text: Thomas Waldherr; Titelfoto: Aaron Lavinsky
Sogar Countrymusiker melden sich zu Wort
Spätestens als die Countrypopformation Lady Antebellum mitteilte, dass sie sich künftig nur noch Lady A nennen möchte, war klar, dass die verstärkte Sensibilisierung für die Lage der afroamerikanischen Community nach dem Tod von George Floyd am 25. Mai nun auch vor der eher konservativen Countryszene in den USA nicht Halt machte. Zur gleichen Zeit veröffentlichten die Old-Time-Country-Boys der Old Crow Medicine Show ein Video, in dem sie an DeFord Bailey erinnerten. Der schwarze Mundharmonikakünstler war ein Star der frühen Grand Ole Opry, wurde dann ein Opfer rassistischen Mobbings und aus der Show entfernt. Ketch Secor, Kopf der Gruppe, fand zum strukturellen Rassismus im Countrybusiness deutliche Worte: „Die Countrymusik muss verstehen, büßen und schwören, es besser zu machen!“
Diese Aussage war weitaus klarer als der Song „Pray For America“, der den Crows zur Coronakrise einfiel. Das war ein laues Lüftchen von Lied. Das Beste war dabei noch das Video, das Probleme wie Rassismus und Armut benennt und damit immer noch im Gegensatz zum Gros der Mainstream-Countrykünstlerinnen und -künstler steht, die weiterhin im Kosmos zwischen Party, Pick-up und Patriotismus verharren.
Noch einen Schritt weiter als Old Crow Medicine Show gingen wieder einmal die Dixie Chicks, die ja vor Jahren schon erfahren mussten, was es heißt, im Countrybusiness konservative Politik – damals in der Person von George W. Bush – zu kritisieren. Radioboykott und Karriereknick waren die Folge. Sie veröffentlichten jetzt nicht nur den aktivistischen Song „March March“, der als klarer Aufruf zur Abwahl Donald Trumps verstanden werden kann, inklusive deutlicher Bilder gesellschaftlichen Protests im Video dazu. Sie strichen auch das „Dixie“ aus ihrem Namen. Dieses Synonym für den alten Süden fanden sie als Bandname nicht mehr angemessen.
Die Americanaszene ist weiblicher, bunter und kritischer geworden
Doch all das kam nicht von ungefähr. Der Widerstand gegen einen frauenfeindlichen und rassistischen Präsidenten führte in der Musikszene zu einer grundlegenderen Kritik an der US-Gesellschaft. Auch das Americanagenre wurde in den vergangenen Jahren immer bunter und diverser. Künstlerinnen wie Alynda Segarra von der Band Hurray for the Riff Raff waren Vorkämpferinnen dafür, dass sich mehr Musikerinnen in Zeiten von #MeToo wagen, klar Position gegen Frauenfeindlichkeit zu beziehen. Und da Amerika nun jemand regiert, der auch noch stolz darauf ist, sexuelle Übergriffe begangen zu haben, formierte sich der Widerstand gegen Trump besonders unter Frauen.
Eilen Jewell, eine der interessantesten weiblichen Singer/Songwriterinnen, sagte zu ihrem aktuellen Album Gypsy (2019) dem Magazin PopMatters: „Zu leben heißt, politisch zu sein. Ich kann nicht anders, als so über die Welt zu singen, wie ich sie sehe. Das ist das, was Songwriter immer tun.“ Das Lied „79 Cents (The Meow Song)“ entstand unmittelbar nach der Wahl Donald Trumps und fußte auf dem Verhalten des US-Präsidenten, „der ein selbst ernannter Pussygrabscher ist“, wie Eilen Jewell im Interview trocken bemerkte. Der Song ist eine bitterbös-unterhaltsame Abrechnung.
In der Bluegrass- und Old-Time-Szene gibt es frische junge Acts, die Musik für eine neue, junge und weibliche Generation machen. So wie Allison de Groot und Tatiana Hargreaves 2019 mit ihrem gemeinsamen Folk-und-Bluegrass-Debütalbum. Es umfasst ganz selbstverständlich weibliche und afroamerikanische Themen. Allison De Groot And Tatiana Hargreaves enthält unter anderem Geigen- und Banjostücke des afroamerikanischen Duos Nathan Frazier & Frank Patterson, der mittlerweile 103-jährigen Fiddlerin Violet Hensley aus Arkansas und der zeitgenössischen Komponistin Judy Hyman von der Band The Horse Flies.
Auch die Thematik eines multiethnischen Amerika findet sich inzwischen verstärkt im Americana. Wie Volksmusik sich stetig weiterentwickeln kann, zeigen Che Apalache. Ähnlich wie Bill Monroe in den 1930er- und 1940er-Jahren die Mountain Music mit Elementen der afroamerikanischen Musik zum Bluegrass machte, mischt die Gruppe um Joe Troop den Bluegrass mit der Musik der Latinos. Und zeigt damit, dass auch in den Appalachen Migranten aus Mexiko und Lateinamerika leben und Musiktraditionen sich begegnen.
Der Gitarrist und Singer/Songwriter M. Ward, für seine düster-experimentellen Twangklänge bekannt, veröffentlichte im April ein Konzeptalbum zum Thema Migration. Auf Migration Stories nahm er seine eigene Geschichte – die Familie war aus Mexiko eingewandert – zum Anlass, um über Flucht und Auswanderung zu reflektieren. Ward greift das Thema in Tagträumen und Miniaturen auf und macht damit dessen Vielschichtigkeit ebenso fassbar wie den einfachen Grund für Migration: Es ist die schier ausweglose Not, die Menschen dazu bringt, ihre Heimat zu verlassen.
Auch die Avett Brothers meldeten sich zu Wort. Während die Jungs aus North Carolina zuvor meist mit melancholisch-innerlicher Musik aufgefallen waren, war ihr 2019 veröffentlichter Song „We Americans“ ein einziger offener Klageschrei. Ein bitteres Stück, das die Lebenslügen und Defizite Amerikas klar benennt. Angesichts der erschreckenden Situation im Frühsommer 2020 veröffentlichten sie den Song nun nochmals mit einem neuen Video. Und im Statement zum neuen Album The Third Gleam sagt Seth Avett: „Wir sprechen historische Vorurteile, Glauben, wirtschaftliche Ungleichheit, Waffengewalt, Inhaftierung, Erlösung an und, wie es in unseren Aufnahmen zunehmend üblich ist, die hohe Sterblichkeit.“
Black Lives Matter – Rhiannon Giddens und die afroamerikanischen Beiträge zur US-Musikkultur
Die Carolina Chocolate Drops mit Rhiannon Giddens und Dom Flemons standen für die Rückbesinnung auf die afroamerikanischen Wurzeln der Countrymusik. Seit 2013 ist Flemons nun als „American Songster“ unterwegs (siehe Folker 5/2018), während Giddens mit vielen unterschiedlichen Arbeiten und Kooperationen, zum Beispiel dem Projekt Our Native Daughters (siehe Folker 4/2019), zu der Folkstimme des „anderen Amerika“ geworden ist. Doch die im Frühjahr auf den Straßen ausgetragenen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen rund um Black Lives Matter musste sie von der Ferne aus beobachten. Die Fragen des Folker beantwortete Rhiannon Giddens aus Irland, wo sie stets einen Teil des Jahres verbringt. Nun war sie froh, während der Coronapandemie dort zu sein.
„Ich bin glücklich in einem kleinen Land zu sein, das bislang scheinbar einen ganz guten Umgang mit dem Virus hat. Aber es schmerzt auch, mich in Zeiten des sozialen und kulturellen Umbruchs und der Abrechnung weit weg von meinem Heimatland aufzuhalten.“ Wobei es noch eines weiten Weges bedarf, um diesen Umbruch zu vollziehen: „Es hat vierhundert Jahre gedauert, um dahin zu kommen, wo wir heute stehen. Also wird der Rassismus nicht in einer Woche abgebaut. Wir brauchen ständige Wachsamkeit, Arbeit auf allen Ebenen, Bildung, Demut und die Bereitschaft zuzuhören. Und Wahlen. Viele, viele Wahlen.“
Auf die Frage, ob sich im Countrybusiness durch den Erfolg von schwarzen Acts wie Darius Rucker oder Mickey Guyton etwas zum Positiven hin verändere, zeigt Giddens sich nicht vollends überzeugt. „Ich weiß nicht. Wir haben diese Zyklen der Aufmerksamkeit, die kommen und gehen. Ich würde gerne denken, dass einige dieser Änderungen sinnvoll sind und sich halten werden. Und sicherlich ist das Bewusstsein dafür, woher die Musik kommt, ziemlich gewachsen. Aber systemische Veränderungen sind schwieriger, dauern länger und können eine Weile brauchen, bis sie offensichtlich werden.“
„Der amerikanische Traum gilt nicht für alle“
Ein ganzes Album hat derweil in der Coronaisolation im Frühjahr der aus Kenia stammende Singer/Songwriter J. S. Ondara aufgenommen. Folk N’ Roll Vol. 1 – Tales Of Isolation heißt sein Ende Mai veröffentlichtes Werk. Ondara begeisterte 2019 mit Tales Of America, das den Niedergang des amerikanischen Traums zum Thema hatte (siehe Folker 3/2019). „Der amerikanische Traum gilt nicht für alle“, so sein ernüchterndes Fazit im Gespräch am Telefon. In der Coronakrise wird diese Einschätzung noch einmal bestätigt. Einer der neuen Songs, „Pulled Out Of The Market“, handelt von Restaurantbedienungen und Arbeitern, die wegen der Pandemie arbeitslos geworden sind.
Sein Album ist gerade fertig produziert, da stirbt in Minneapolis George Floyd an den Folgen brutaler Polizeigewalt. „Der Tod von George Floyd hat mich sehr deprimiert“, so Ondara. Also geht der Musiker auf die Straße und spielt auf Demonstrationen. Wobei er sich nicht als politischer Künstler sieht. „Ich bin ein beobachtender Künstler. Ich finde meine Themen in Zeitungen, in Gesprächen mit Freunden und in meinen eigenen Betrachtungen.“
Songs werden in den sozialen Medien zu Protesthymnen
Während der Wochen nach George Floyds Tod zeigte sich aber auch erneut, dass Musik heute ganz anders funktioniert als früher. Songs werden auf Youtube oder Instagram zum Hit, bevor oder auch ohne dass sie auf einen physischen Tonträger gebannt wurden. Als das Video des erst zwölfjährigen Afroamerikaners Keedron Bryant mit dem Gospelsong „I Just Want To Live“ zum Hit in den sozialen Medien wurde, hatte die Bewegung gegen Rassismus und Polizeigewalt ihre Hymne und einen jungen Star, der prompt mit den Freedom Singers oder den Staple Singers verglichen wurde.
The Avett Brothers; Foto: Promo
Die traditionellen Folkies sind sich treu geblieben
Durchgehend haben sich in den letzten Jahren Folkmusikerinnen und -musiker wie Joan Baez, Ani DiFranco, Billy Bragg oder Tim Grimm an Trump und den Widersprüchen der US-Gesellschaft abgearbeitet. Auch Sonia Rutstein aka SONiA disappear fear singt nun schon seit mehr als dreißig Jahren gegen Rassismus, Homophobie und Krieg an. Die mehrfach Grammy-nominierte Sängerin hat nun mit Love Out Loud eine Rückschau auf ihre Karriere vorgelegt. „Die Auswahl der Songs geschah aufgrund ihres politischen Zusammenhangs mit den Themen Homophobie, Rassismus und Antisemitismus“, kommentiert sie.
Der Engländer Billy Bragg ist ein Grenzgänger zum Americana-Genre und hat sich zum Spiritus Rector der politischen Folkszene entwickelt. Und ist immer für eine Überraschung gut. So coverte er Ende Mai für einen karitativen Fonds zur Coronahilfe den Song „Only The Young“ des Ex-Country- und heutigen Popsuperstars Taylor Swift. Sie kritisierte im Frühjahr deutlich Trump und dessen Reaktionen bezüglich der Unruhen in Minneapolis auf Twitter: „Nachdem Sie während Ihrer gesamten Präsidentschaft die Feuer der weißen Vorherrschaft und des Rassismus angeheizt haben, haben Sie den Nerv, moralische Überlegenheit vorzutäuschen, bevor Sie mit Gewalt drohen? ‚Wenn es zu Plünderungen kommt, wird geschossen‘??? Wir werden Sie im November abwählen.“ Bragg fügte Taylor Swifts Songtext auch noch deren Twitter-Zeilen hinzu. Ungewöhnliche Zeiten befördern ungewöhnliche musikalische Allianzen.
Auch zwei Altmeister verschaffen sich wieder Gehör
Und plötzlich meldete sich auch die alte Sphinx der US-Musikszene, Bob Dylan, höchstpersönlich wieder zu Wort. Der Mann, der mit Songs wie „The Lonesome Death Of Hattie Caroll“ oder „Masters Of War“ schon vor vielen Jahren universelle Wahrheiten zu den Mechanismen und Machtverhältnissen der US-Gesellschaft verkündet hatte, veröffentlichte erst das siebzehnminütige Epos „Murder Most Foul“ zur Kennedy-Ermordung und dann ein ganzes Album: Rough And Rowdy Ways. Dylans aktuelle Musik ist der Schwanengesang auf das amerikanische Jahrhundert.
Unterdessen stellte sich Neil Young erneut direkt gegen Donald Trump und erhob ebenso wie die Familie des Rockmusikers Tom Petty und andere Musiker Protest gegen die Nutzung seiner Songs auf Wahlveranstaltungen des Präsidenten. Zudem schrieb er sein „Looking For A Leader“ aus dem Jahr 2006 so um, dass nun die klare Botschaft lautet, am 3. November die Demokraten zu wählen.
Wie geht es weiter in Amerika?
Es werden noch heiße Wahlkampf-Wochen in den USA. Joe Biden hat prominente musikalische Unterstützung aus der Folk-, Country- und Americana-Szene: David Crosby, Sheryl Crow und Willie Nelson sind ebenso mit dabei wie Rufus Wainwright, Jimmy Buffet oder eben Neil Young.
Wie die jüngsten Entwicklungen bei den Demokraten kurz vor Reaktionsschluss zu zeigen scheinen, könnten sie diesmal weitaus geschlossener in die Wahl gehen als vor vier Jahren. Der progressive Teil der USA scheint die Zeichen der Zeit erkannt zu haben. Allererste Voraussetzung für ein fortschrittliches Amerika wäre die Abwahl Donald Trumps.
Albumtipps:
The Avett Brothers, The Third Gleam (Loma Vista Recordings /Universal, 2020)
Che Apalache, Rearrange My Heart (Free Dirt Records/Galileo, 2020)
The Chicks, Gaslighter (Columbia/Sony, 2020)
Allison de Groot, Tatiana Hargreaves, Allison De Groot And Tatiana Hargreaves (Free Dirt Records/Galileo, 2019)
Bob Dylan, Rough And Rowdy Years (Columbia/Sony, 2020)
Rhiannon Giddens mit Francesco Turrisi, There Is No Other (Nonesuch/Warner, 2019)
Rhiannon Giddens mit Our Native Daughters, Songs Of Our Native Daughters (Smithsonian Folkways/Galileo, 2019)
Eilen Jewell, Gypsy (Signature Sounds/H’art, 2019)
J. S. Ondara, Folk N’ Roll Vol. 1 – Tales Of Isolation (Verve/Universal, 2020)
SONiA disappear fear, Love Out Loud (Disappear Records, 2020)
M. Ward, Migration Stories (Anti-/Indigo, 2020)
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