Nahezu ein Jahrzehnt hat es nach seinem letzten Solowerk gedauert, ehe John Doyle im Frühjahr 2020 das seit Längerem angekündigte neue Album The Path Of Stones veröffentlicht hat. Es unterstreicht seinen Ruf, einer der besten Gitarristen der transatlantischen Celtic-Music-Szene zu sein, und es zeigt, dass dieses Renommee dem vielseitigen Instrumentalisten und Songschreiber und Sänger nur entfernt gerecht wird.
Text: Ulrich Joosten
Na klar, Doyle hat, wie ihm das Wall Street Journal bescheinigt, „an der Gitarre ein Niveau erreicht, das nur noch von ihm selbst besetzt ist. Niemand in der traditionellen irischen Musik ist im Moment ein besserer Gitarrist als er.“ Doch der aus Dublin stammende Künstler ist so viel mehr: Er ist Arrangeur, Produzent und Multiinstrumentalist. Und er ist ein ausdrucksstarker Sänger mit einer ansprechenden Baritonstimme.
Das Eröffnungslied seines neuen Albums, „The Rambler From Clare“, in dem der Protagonist während der 1798er-Rebellion von Irland nach Amerika flieht, hat Doyle schon so lange im Repertoire, dass er sich „ehrlich nicht mehr erinnern kann, wo ich das Lied zum ersten Mal gehört habe“. Und so wie die Hauptperson des Songs hat auch der junge Musiker sein Glück jenseits des Großen Teichs gesucht.
John Doyle, Jahrgang 1971, stammt aus einer musikalischen Dubliner Familie. Sein Vater Sean, ein ehemaliger Polizist, ist in seiner Heimat ein bekannter Sänger und Liedersammler. Doch zur traditionellen irischen Folkmusik bringt John eher sein Großvater, der Akkordeon in einer Céilí-Band spielt. Sein Enkel hört bereits im zarten Alter von vier Jahren bei den Proben zu und versucht, ebenfalls dieses Instrument, „auf den Kopf gestellt“, zu lernen, denn Doyle ist Linkshänder. „Irgendwann habe ich angefangen, Gitarre zu spielen. Das funktionierte aber erst, nachdem ich die Saiten umgespannt und den Sattel modifiziert hatte. Danach aber ging es richtig ab.“ Seine musikalischen Vorbilder sind aus England Künstler wie Nic Jones, Martin Carthy und Richard Thompson, die schottischen Sänger Dick Gaughan und John Martyn, von seinen irischen Landsleuten nennt er Paul Brady und Al O’Donnell als Einfluss.
1989, Doyle ist gerade mal sechzehn Jahre alt, gründet er gemeinsam mit der Sängerin Susan McKeown seine erste Band, das Duo The Chanting House, mit dem er „extensiv auf Tour“ geht. „Das ging dermaßen gut ab“, erinnert er sich, „dass ich beschloss, die Schule zu schmeißen und Profimusiker zu werden.“ Er folgt McKeown 1990 in die USA, wo sich der irischstämmige Amerikaner und Multiinstrumentalist Seamus Egan und die Fiddlerin Eileen Ivers der Band anschließen.
1996 gründet Egan die legendäre transatlantische Supergruppe Solas (benannt nach dem irisch-gälischen Wort für „Licht“) mit Doyle und der Geigerin Winifred Horan. Zu dem Trio gesellen sich der Akkordeonist John Williams und die Sängerin Karan Casey, mit der Doyle in späteren Jahren immer wieder zusammenarbeitet. Solas ist mit drei Auszeichnungen der National Association of Independent Record Distributors (NAIRD) und einer Grammy-Nominierung überaus erfolgreich und tourt international. Doyle hat mit seinem eigenen, kraftvollen Gitarrenstil einen nicht unerheblichen Anteil am Erfolg der Gruppe, der er bis 2002 angehört.
Sein Markenzeichensound basiert nicht, wie man es bei einem keltischen Gitarristen vermuten mag, auf einer DADGAD gestimmten Gitarre, sondern auf dem Dropped-D-Tuning, bei dem lediglich die tiefe E-Saite auf D heruntergestimmt wird. Doyle entwickelt mit diesem Tuning einen unwiderstehlichen Groove, und ist dabei dennoch präzise wie ein Schweizer Uhrwerk. Genauso gut beherrscht er die Kunst des gefühlvollen, emotionalen Fingerpickings. Er wird heute als einer der, wenn nicht der beste traditionelle irische Gitarrist gehandelt, ist ein gefragter Session- und Studiomusiker und Produzent.
2001 erscheint sein erstes Soloabum Evening Comes Early auf Shanachie Records. Das zweite, Wayward Son, wird vier Jahre später, 2005, bei seiner heutigen Plattenfirma Compass Records veröffentlicht. Auf das dritte Album Shadow And Light müssen die Fans sogar sechs Jahre warten, bis 2011, und ganze neun weitere dauert es, ehe The Path Of Stones im Frühjahr 2020 erscheint. An mangelnder Kreativität liegt das nicht. Doyle ist schlicht zu beschäftigt. Auf seiner Website sind über siebzig Albumproduktionen meist prominenter Namen verzeichnet, an denen er beteiligt ist. Von 2008 bis 2010 arbeitet er als musikalischer Direktor für Joan Baez. „Es hat mir viel bedeutet,“ sagt er, „ein Jahr mit ihr auf Tour zu sein, ich fühlte mich, als sei ich Teil der Musikgeschichte. Wir kamen von Anfang an sehr gut miteinander zurecht. Sie bat mich, die Songs auszusuchen, die ich gern mit ihr spielen würde, und eine Band zusammenzustellen.“
„Was wir heutzutage komponieren, wird in der Zukunft traditionelle Musik sein.“
John Doyle lebt seit fast dreißig Jahren in den Vereinigten Staaten, aber er bleibt ein ruheloser transatlantischer Wanderer, ist international in immer wieder neuen Verbindungen unterwegs.
Er spielt in der Country- und Bluegrassband des Mandolinenvirtuosen Tim O’Brien und bringt dort Akkordprogressionen und -substitutionen seines rhythmischen keltischen Powergitarrenstils als Struktur für die Bluegrasssoli O’Briens ein. Danach arbeitet er unter anderem mit der Singer/Songwriterin Mary Chapin Carpenter und für die Banjo- und Gitarrenvirtuosin Alison Brown.
Eine wichtige Station für Doyle ist die Transatlantic Sessions Band, eine Kooperation der schottischen Fiddlerlegende Aly Bain und des nicht minder renommierten amerikanischen Dobrovirtuosen Jerry Douglas, die seit 1995 für BBC Scotland, BBC 4 und RTÉ folkmusikalische Showsendungen produzieren. „Die Band besteht aus zehn Leuten“, sagt Doyle, „und die Idee dahinter ist, Bluegrass, Old-Time, Irish, English und Scottish Folk von beiden Seiten des Atlantiks zu vereinen. Ich habe bei zwei der insgesamt sechs Fernsehshows mitgemacht. Ich liebe das, man spielt da mit quasi jedem wichtigen Musiker …“
In den letzten Jahren ist Doyle erneut an einer Celtic-Folk-Formation beteiligt, die das Prädikat „Supergroup“ verdient. Usher’s Island heißt die 2015 gegründete Band, in der neben ihm und seinem langjährigen Kollegen, dem Flötisten und Uilleann-Piper Michael McGoldrick, drei Ikonen der irischen Folkmusikszene spielen: die Multiinstrumentalisten und Planxty-Urgesteine Andy Irvine und Dónal Lunny sowie der Fiddler und Bothy-Band-Mitgründer Paddy Glackin. „Mit Usher’s Island aufzutreten“, sagt Doyle, „heißt, mit meinen Helden auf der Bühne zu stehen. Dónal Lunny und Andy Irvine haben eigenhändig die irische Musik verändert, sie seit den Siebzigerjahren komplett reformiert. Ihre Art, mit gleich zwei Bouzoukis, Mandola und Uilleann Pipes zu spielen – das hatte man vorher noch nie gehört. Es gibt kaum jemanden, der nicht auf irgendeine Art und Weise von diesen beiden beeinflusst wurde.“
Doyles langerwartetes viertes Soloalbum zeigt, dass er tief in der Tradition der keltischen Folkmusik verwurzelt ist, und daraus eine ureigene musikalische Handschrift entwickelt hat. Sämtliche zehn Kompositionen des Albums stammen aus seiner Feder, und fast alle Instrumente hat der Musiker eigenhändig eingespielt. Neben der sechs- und zwölfsaitigen Gitarre sind das Mandola, Mandoline, Bodhrán, Fiddle, Bouzouki, Harmonium und Keyboards. Kraftvoll zupackender Celtic Groove kennzeichnet die vier instrumentalen Jigs und Reels, während Doyle andererseits die Kunst der Reduktion beherrscht und die sechs Songs des Albums auch sparsamer arrangiert, wenn es das Lied erfordert – zum Beispiel mit luftig-filigranen Gitarrenpickings in „Lady Wynde“ oder im Titelstück „The Path Of Stones“. Zur Unterstützung hat Doyle die Multiinstrumentalistin und Sängerin Cathy Jordan von der Gruppe Dervish ins Studio gebeten. Hinzu kommen seine alten Freunde und Weggefährten Mike McGoldrick an Flöte, Bodhrán und Percussion sowie John McCusker an Fiddle und Harmonium und Duncan Wickel, ebenfalls an der Fiddle und am Cello.
„Es ist diese eine Sache, die ich an traditioneller Musik liebe: dass sie weitergegeben wird von Generation zur Generation. Und sie wird verändert. Und jeder muss seine eigene Ausdrucksform darin finden. Es gibt ja Leute, die der Meinung sind, dass traditionelle Musik exakt so gespielt werden muss wie vor zweihundert Jahren. Ich finde, das stimmt nicht. Sie verändert sich fortwährend. Traditionelle Musik passiert jetzt. Was wir heutzutage komponieren, wird in der Zukunft traditionelle Musik sein.“
Cover The Path of Stones
Aktuelles Album: The Path Of Stones (Compass Records, 2020)
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