Lido Pimienta ist ein Energiebündel, deren Zöpfe so lang sind, dass sie auf dem Boden schleifen. Die kolumbianische Sängerin, die für ihr zweites Album La Papessa vor drei Jahren den prestigeträchtigen Polaris-Preis für das beste kanadische Album des Jahres in ihrer Wahlheimat verliehen bekam, kehrt auf ihrem dritten Album, Miss Colombia, vermeintlich zur Tradition zurück.
Text: Rolf Thomas; Titelfoto: Ruthie Titus
„Der Titel ist ein Wortspiel, weil ich Kolumbien vermisse“, erklärt Lido Pimienta. „Es reflektiert aber auch die Tatsache, dass jemand wie ich niemals zur Miss Colombia gewählt werden würde. Das geht auf eine in Kolumbien berühmte Geschichte zurück, weil der Moderator Steve Harvey 2015 bei der Wahl zur Miss Universe zunächst Miss Colombia als Gewinnerin ausrief, bevor er sagte, einen Fehler gemacht zu haben und den Titel dann an das Mädchen von den Philippinen vergab. Für die Menschen in Kolumbien fühlte sich das so an, als ob Steve Harvey und damit die USA ihnen den Krieg erklärt hätten. Ich habe es wirklich niemals zuvor erlebt, dass Kolumbianer in ihrer Wut über so eine dumme Sache vereint waren. Dumm ist das vor allem, wenn man bedenkt, dass in Kolumbien täglich Kinder sterben, weil sie keinen Zugang zu fließendem Wasser haben – darüber sollten sich die Leute aufregen. Stattdessen fordern sie ‚Gerechtigkeit für Kolumbien‘ wegen einer dämlichen Krone für eine Schönheitskönigin. Ich frage mich bei solchen Gelegenheiten natürlich auch, ob ich überhaupt noch Kolumbianerin bin, denn ich lebe seit zehn Jahren in Kanada. Habe ich überhaupt noch dieselbe Gefühlslage wie andere Kolumbianer, die nicht weggegangen sind? Bin ich stolz darauf, aus Kolumbien zu kommen? All diese Fragen beschäftigen mich, wenn ich mitkriege, wie dann zum Beispiel diese arme Philippinin rassistisch beleidigt wird. Daran merkt man, dass wir immer noch eine Kolonie sind. Wir spüren immer noch so viel spanisches Blut in uns, und das wird sich wahrscheinlich in den nächsten zwei- bis dreihundert Jahren auch nicht ändern, bevor wir uns akzeptieren als die wilde Mischung aus Schwarzen und Indigenen, die wir eigentlich sind. Das Album ist also auch ein Liebesbrief an mein Land, aber es ist ein zynisches Liebeslied.“
Pimienta, die eigentlich Elektropop macht, hat mit Identitätsproblemen zu kämpfen, die sie gleich im Auftaktsong zum Thema macht. „‚Para Transcribir‘ beschreibt einen Transformationsprozess“, erläutert die Sängerin mit dem scharfen Sopran. „Wenn man beispielsweise an einen schönen Strand in Kolumbien kommt, bedenkt man nicht, was die Gegend für die Leute bedeutet hat, die vorher hier gelebt haben, bevor sie wegen eines Hotelbaus umgesiedelt wurden. Ich versuche also, diese Informationen zu geben oder mich meiner eigenen Geschichte zu versichern. Das führt auch dazu, dass ich mit meiner eigenen Realität besser zurechtkomme, wenn ich mir klarmache, was mich hierhin geführt hat. Ich muss nicht unbedingt so tun, als ob ich glücklich sei. Es ist immer auch ein bisschen schwer für mich zu akzeptieren, dass es mir gefällt, in Kanada zu leben. Wenn ich heute ein- oder zweimal im Jahr nach Kolumbien komme, fühle ich mich wie eine Fremde.“
Ihre Heimat hat Lido Pimienta vor zehn Jahren verlassen, da war sie 22. „Wir sind wegen des Bürgerkriegs ausgewandert“, sagt sie. „In Kolumbien gibt es so viel politisches Durcheinander, und dann schwebt auch noch immer die Gefahr, entführt zu werden, über einem. Meine Mutter ist eine Indigene, und sie wollte einfach, dass wir an einem sicheren Ort sind. Da, wo ich aufgewachsen bin, ist es nicht sicher, vor allem nicht für junge Frauen. Und meine Mutter wusste genau, dass ich meine Klappe nicht halten kann. Die kolumbianische Regierung ist wie eine Diktatur, man kann einfach nicht alles in der Öffentlichkeit sagen. Und das passte mir schon nicht, als ich elf Jahre alt war. Später habe ich in Punk- und Metalbands gesungen, da ging es auch nicht gerade vorsichtig zu. In einem Song haben wir den kolumbianischen Präsidenten als Teufel bezeichnet, und das sollte man besser nicht tun. Also sind wir gegangen – aus Sicherheitsgründen.“
Lido Pimienta
Foto: Daniella Murillo
Pimientas neues Album funkelt und strahlt und enthält neun grandiose Songs – „Para Transcribir“ rahmt die CD in zwei Versionen ein –, die, obwohl sie auf traditionellen Rhythmen fußen, poppig und aufregend klingen. „Ich wollte, dass Miss Colombia großartig klingt, deshalb brauchte ich einen guten Produzenten“, stellt Lido Pimienta klar. „Matt Smith, der unter dem Künstlernamen Prince Nifty arbeitet, hat mich schon vor Jahren in Toronto begeistert, und ich wusste, dass ich eines Tages mit ihm arbeiten würde. Ich habe ihm also immer meine Songs zugeschickt, und er hat mir Tipps gegeben. Auf meinem zweiten Album La Papessa habe ich noch alles selbst gemacht, deshalb war ich jetzt sehr froh, einen erfahrenen Produzenten an meiner Seite zu haben, der mich immer wieder auf die richtige Spur gesetzt hat. In der Musik kann es furchtbar sein, wenn man alles alleine macht. Ich bin sehr an meinem Sound interessiert und möchte gerne einzigartig klingen, dabei hat mir Matt geholfen.“
Der Grund, warum Lido Pimienta ein Thema für den Folker ist, hat mit dem gut gemeinten Vorurteil zu tun, mit dem die Sängerin im Laufe ihrer Karriere zu kämpfen hat. „Auf meinem letzten Album ging es ziemlich elektronisch zu. Aber weil ich aus Kolumbien komme, denken die Leute immer, ich würde Cumbia machen“, seufzt sie. „Ich könnte eine Opernarie singen und die Leute würden ‚New Cumbia‘ kreischen. Wenn ich also sowieso in dieser Schublade stecke, dachte ich, okay, dann kriegt ihr eben Cumbia! Also habe ich exakt geplant: Dieser Song wird ein Porro, dieser Song wird ein Cumbia und so weiter. Ich habe all die Rhythmen verwendet, mit denen ich aufgewachsen bin, aber natürlich gefiltert durch die elektronischen Klänge von heute.“
Das Ergebnis ist ein Stück Weltmusik, dass die Herkunft ihrer Protagonistin nicht verleugnet, sich aber gleichzeitig im internationalen Vergleich eher mit Leuten wie Björk, Billie Eilish oder Awa Ly misst. Lido Pimienta ist keine Traditionalistin, aber sie hat die kolumbianische Musiktradition verinnerlicht und führt sie mit ihrer Musik auf ein neues internationales Niveau. Das wird auch in ihren Genrezuschreibungen der einzelnen Songs deutlich. „‚Eso Que Tu Haces‘ ist ein Porro, ‚Nada‘ ist ein Cumbia, ‚Pelo Cucu‘ ist ein Bullerengue, ‚Quiero Que Me Salves‘ ist ein Sexteto – ein afrokubanischer Rhythmus, den wir ein bisschen schneller gespielt haben“, erzählt sie, während sie jeden Rhythmus spontan vorklatscht und dazu singt. „Das ist eine Liveaufnahme, die zusammen mit Mitgliedern von Sexteto Tabala entstanden ist, der besten Band der Welt. Wir haben das Stück in Palenque aufgenommen, das das erste freie Dorf in Südamerika war.“
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lidopimienta.bandcamp.com
Aktuelles Album:
Miss Colombia (ANTI-/Indigo, 2020)
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