„Dies ist eine Einladung, mich auf einer Spurensuche zu begleiten, die um 1850 beginnt und im Jahr 2000 enden wird. Dabei werden wir immer wieder den Atlantik überqueren, von Afrika nach New Orleans, Havanna, Bahia, Buenos Aires und in viele andere Häfen …“ Wer diese Einladung des Autors annimmt, darf und muss sich auf eine lange Reise einstellen. Insgesamt drei Bände mit annähernd zweitausend Seiten umfasst das Werk. Für Musikkenner oder Gelehrte habe er diese Bücher nicht verfasst, betont Schreiner im Vorwort und zitiert den Komponisten Michael Glinka mit dem Satz: „Es ist das Volk, das die Musik schafft. Wir Musiker arrangieren sie nur.“
Claus Schreiner, geboren 1943, ist deutscher Musikproduzent, (Rundfunk- und Print-)Journalist sowie Buchautor. 1976 gründete er gemeinsam mit dem Verleger Franz König die Tropical Music GmbH als Musikverlag, der im Laufe der folgenden Jahrzehnte auch Tonträger und Musikvideos aus anderen Kontinenten nach Deutschland importierte sowie neue Aufnahmen produzierte. Bedeutende Künstler und Künstlerinnen aus Lateinamerika, vor allem Brasilien, erschienen so erstmals in Deutschland – Aufnahmen von Mercedes Sosa, Milton Nascimento oder Astor Piazzollas legendäres Album Libertango. Schreiner veröffentlichte mehrere Standardwerke über brasilianische Musik, darunter 1977 Música Popular Brasileira.
Der „schöne fremde Klang“ ist offensichtlich Schreiners Leidenschaft und Triebfeder. Als studierter Soziologe beschreibt er Musik in ihrem gesellschaftlichen Kontext. Die historischen und politischen Ereignisse werden ausführlich geschildert und sind durch Archivbilder und Illustrationen ergänzt, wie etwa die Zeichnung „Negersklaven beim Transport eines Flügels in Rio de Janeiro“ des französischen Künstlers und Holzstechers Charles Maurand (1824-1904). Schreiner gibt penibel alle Quellen an, jeder Band beinhaltet zudem ein umfassendes Namens-, Titel- und Sachregister. Das ist von großem Wert und ermöglicht einen schnellen Quereinstieg in unterschiedliche Themen. Schreiner selbst distanziert sich in seinem Anspruch dabei ausdrücklich von Forschung und Musikwissenschaft und verweist lieber auf Kolleginnen und Kollegen wie den namhaften Musikethnologen Max Peter Baumann. Das Buch soll ohne Vorkenntnisse gelesen werden können, betont Schreiner im Vorwort und lädt zu einem möglichst unvoreingenommenen Musikhören abseits von Begriffen, Kategorien und Schubladen ein. Der Text selbst hat den erzählenden Grundton des Kulturjournalisten, der sehr viele Radiosendungen gemacht hat.
Schreiner beginnt im 19. Jahrhundert und schreibt sich chronologisch bis ins Jahr 2000. Wer sich schon einmal mit den Anfängen der Jazzgeschichte in Deutschland beschäftigt hat, wird in Band 1 viel Bekanntes wiederfinden und lesen. Dieser Band ist eine historische Recherche – Ragtime und Blues waren frühe „exotische“ Musikstile in Deutschland ebenso wie Cakewalk, Rumba, Tango und viele andere Tänze, die schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Europa populär wurden. Der Untertitel des Buches lautet: „Wie exotische Musik nach Deutschland kam“ – und der Begriff Exotik taucht oft im Buch auf, in verschiedenen historischen Zusammenhängen, vor allem in Band eins. In seiner dortigen Einführung „Wilde Zeiten“ beschreibt Schreiner die Exotik des ausgehenden 19. Jahrhunderts als „noch immer eine von rassistischen und eurozentristischen Denkweisen geprägte Sicht auf das Fremde“, was er durch zahlreiche Beispiele belegt. Der Duden definiert den Begriff „exotisch“ als „fernen (besonders überseeischen, tropischen) Ländern, Völkern eigentümlich, ihnen zugehörend, entstammend; (der Art, dem Aussehen, Eindruck nach) fremdländisch, fremdartig und dabei einen gewissen Zauber ausstrahlend“. Es ist ein Begriff, der sich je nach Nutzung mal negativ, mal positiv verhalten kann.
Band zwei erzählt von der deutschen Nachkriegsgeschichte und dem, was im Zuge der neuen politischen Positionierungen an außereuropäischer Musik nach Deutschland kam. Anfangs waren es vor allem Schlager, die exotische Klischees bedienten. Aber das ist nur ein Teil dieser wichtigen Jahrzehnte bis 1975, die durch Schlagworte wie Kennedy, Kubakrise, Mauerbau, Nato-Doppelbeschluss, Dutschke, Vietnam oder Woodstock beschrieben werden.
Band drei widmet sich den Jahrzehnten bis 2000, in denen sich der Begriff „World Music“ etabliert und Afrobeat, Salsa, Reggae und Co. in deutsche Ohren und Beine fließen. Dieser Band liest sich am schönsten, weil es darin nicht um historische Recherche geht, sondern er Schreiners eigene Lebenszeit umfasst. Hier kann er aus eigenen Erfahrungen und von seiner Arbeit schreiben, wie er selbst auch im Vorwort betont. Entsprechend fließt viel Wissen über lateinamerikanische Musik in das Buch ein, aber auch hier erhebt Schreiner keinen Anspruch auf Vollständigkeit, was Namen von Musikern und Musikerinnen betrifft.
Schöner fremder Klang ist kein Musiklexikon, sondern ein Buch über die Rezeptionsgeschichte „exotischer“ Musik in Deutschland. Dazu gehören auch die Musik- und Festivalszene sowie die Musikindustrie. Bei manchen Leserinnen und Lesern dürften Erinnerungen an das eigene erste Open-Air-Festival wach werden. Die Probe aufs Exempel? Auch Stichworte wie „folker“, „Guthrie“ oder „Rudolstadt“ sind erfasst und haben ihren Platz in diesem Mammutbuch. Insgesamt ist die Faktendichte beeindruckend, manchmal auch ermüdend. Davon sollte man sich jedoch nicht abschrecken lassen, denn dank ihrer übersichtlichen Kapitelaufteilung muss man diese drei Bände nicht chronologisch lesen. Sie laden vielmehr dazu ein, sich immer mal wieder auf eine ausgewählte Etappe dieser wundervollen Reise zu begeben.
Petra Rieß
Claus Schreiner: Schöner fremder Klang – Wie exotische Musik nach Deutschland kam. – Berlin : Metzler, 2022 – je 29,99 EUR
Bd 1: Ragtime, Tango, Rumba & Co. (1855-1945). – XII, 610 S. : mit Ill.ISBN 978-3-476-05694-8 Bd 2: Samba, Mambo, Bossa & Co. (1945-1975). – XII, 660 S. : mit Ill.
ISBN 978-3-476-05696-2 Bd 3: Afrobeat, Salsa, Reggae & Co. (1975-2000). – XII, 641 S. : mit Ill.
ISBN 978-3-476-05698-6
Bezug: www.link.springer.com
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