Schon ein halbes Jahrhundert, bevor die französischen Siedler aus Kanada vertrieben wurden und sich an der Golfküste niederließen, war die Gegend um die Mündung des Mississippi Kolonialgebiet Frankreichs. Lang vor der heute als Cajun bekannten Kultur vermischten sich dort bereits im 17. Jahrhundert Musiktraditionen von Indigenen, Eingewanderten und Versklavten.
Text: Martin Wimmer
In dieser Tradition stehen Muddy Gurdy. Gäbe es einen Preis für den sprechendsten Bandnamen, die „Schlammige Drehleier“ wäre vorn mit dabei. Die geweckten Assoziationen an krachenden Delta Blues und das dröhnende mittelalterliche Lauteninstrument treffen exakt den Sound der drei unkonventionellen Musikschaffenden aus Clermont-Ferrand am Fuße der Vulkanhügel der Auvergne.
Mastermind der Band war der umtriebige Percussionist und Arrangeur Marc Glomeau. Leider verstarb er völlig unerwartet wenige Tage nach dem Interview mit ihm zum neuen Album. Seit 1997 entwickelte er unter der Dachmarke Chantilly Negra Productions Projekte rund um Latin Jazz, Weltmusik oder zeitgenössische Musik und formte ein Trio, das sein fanatisches Trommeln mit Tia Gouttebels schneidender E-Gitarre und Gilles Chabenats Drehleier perfekt zu einem süffigen Zaubertrank kombinierte. Das erste Album erschien 2014 noch unter dem Gruppennamen Hypnotic Wheels, enthielt aber bereits alle Ingredienzen, die auch die folgenden Aufnahmen prägten. Chabenat: „Wir haben uns viel Zeit genommen, um für Muddy Gurdy einen sehr eigenen Bandsound zu kreieren, mit dem wir großen Respekt für das von uns bewunderte Repertoire ausdrücken können.“
Die tiefen Töne der Bordunsaiten, das typische Schnarren, das Leiern – die gute, alte Hurdy-Gurdy erfindet sich im 21. Jahrhundert neu als hypnotisierender Soundeffekt. Selbst altbekannte Klassiker legen so bei Muddy Gurdy deutlich an Intensität zu. Wer Blues mit stiller Einsamkeit assoziiert, bekommt hier das Gegenprogramm: ein beständiges Donnergrollen, das pulsierende Rattern von Güterwaggons. Chabenats beseelt gedrehte Kurbel beschwört eher ölverschmierte Maschinenparks herauf als Baumwollpflücken unter blauem Himmel. „Mein Instrumentenbauer konstruierte mir extra für dieses Projekt eine ‚hybride‘ Hurdy-Gurdy mit tieferem Register und Spezialeffekten, die uns ganz neue Optionen aufzeigte.“
Um das zweite Album aufzunehmen, reisten die drei 2017 mit einem Laptop, einer Soundkarte und acht Mikrofonen ins North Mississippi Hill Country. Für improvisierte Sessions gewannen sie bekannte Namen: Cedric Burnside, den Enkel von R. L. Burnside, Shardé Thomas, die Enkelin von Otha Turner, Cameron Kimbrough, den Enkel von Junior Kimbrough, und Pat Thomas, den Sohn von James „Son“ Thomas. Die miasmatische Mischung aus Mittelalter und Mississippi wurde ein voller Erfolg, ausverkaufte Konzerte und hymnische Kritiken inklusive.
Das aktuelle dritte Album nahmen Muddy Gurdy zu Hause in Zentralfrankreich auf. Eine Scheune, eine Kapelle dienten als inspirierende Studios, einzelne Songs wurden in einem alten Vulkankrater bei Fackelschein eingespielt, im Hintergrund Kuhglocken. „Alles wurde in einem Take ohne Postproduktion aufgenommen“, verriet Glomeau, der Homecoming als „logische Fortsetzung des Vorgängeralbums“ betrachtete, ohne zu ahnen, dass es zu seinem Vermächtnis werden würde. Auch diesmal repräsentieren musikalische Gäste das Erbe der Region, darunter ein Dudelsackspieler, ein Mundharmonikazauberer und ein Spezialist für die Gesänge von Ackerbauern beim Pflügen.
Die Theorie dahinter: Ähnlich wie beim Jodeln entwickelten sich bei der Feldarbeit auf unterschiedlichen Erdteilen Gesangsformen (Field Holler, Cattle Call), die als universelle Sprache zu betrachten seien, mit der Menschen sich zu harter Arbeit, Frondienst und menschlichem Leid verhielten. „All diese Musik ist Musik vom Land, erdacht und gespielt von Bauern“, fasste Glomeau zusammen, „Musik, die eine Funktion innerhalb der Gemeinschaft hat. Wir versuchen, einen neuen Zugang zum Blues zu eröffnen. Und zwar über die ländlichen Wurzeln, die den Blues nähren. So wie sie seit Langem die Volksmusik bei uns in der Auvergne bewässern.“
Und tatsächlich fügen sich die französischen Viehtreiberanweisungen perfekt in die Stampede des Trios. In der experimentellen Praxis Muddy Gurdys ächzen die Instrumente unter dem Joch; harte, schmerzende Rhythmen prägen die Neuinterpretationen von Songs, die von Sam Cooke, Vera Hall, J. B. Lenoir oder Fred McDowell bekannt sind. Dabei fällt auf, dass Songs gern auch ein zweites Mal arrangiert werden. Vom ersten Album hat es „Goin’ Down South“ auf das zweite geschafft, „Down In Mississippi“ auf das dritte. Dabei fällt auf, dass Songs gern auch ein zweites Mal arrangiert werden. Vom ersten Album hat es „Goin’ Down South“ auf das zweite geschafft, „Down In Mississippi“ auf das dritte. Dass die Band sich auf Einheit im Wandel versteht, erkennt man zudem am Bandlogo, dem „hypnotisierenden Rad“, das sich von Cover zu Cover leicht verändert.
Interessant auch, dass die Mississippi Sessions von 2018 mit dem von B. B. King bekannten „Help The Poor“ enden und Homecoming mit „Lord, Help The Poor And Needy“ von Jessie Mae Hemphill beginnt. Glomeau: „‚Help The Poor‘ haben wir in B. B. Kings legendärem Club in Indianola aufgenommen. Als Robert Terrell, der Leiter des B. B. King Museums, uns persönlich die Tür zu diesem Tempel öffnete, wussten wir, ehrlich gesagt, noch nicht, was wir dort aufnehmen würden. Die besondere Atmosphäre dieses Ortes hat uns wahrscheinlich zu diesem Stück geführt.“
Den Gesang auf Homecoming übernahm ausschließlich Gouttebel. Von der Lynchmordballade „Strange Fruit“ bis zum superrockigen Rausschmeißer „Tell Me You Love Me“ stellt sich die Partnerin Glomeaus ganz in den Dienst der Band. Während sie in Videos und Konzertmitschnitten sichtbar im Vordergrund steht, ist sie auf Konserve vollständig in den Gesamtsound integriert.
Glomeau betonte, dass viele live vom Sound des Trios überrascht seien, der viel voluminöser sei, als die kleine Besetzung auf der Bühne es erwarten ließe. Chabenat ergänzt: „Vor amerikanischem Publikum weckt erst mal die Drehleier große Neugier. In Europa dagegen wundern sich die Leute mehr darüber, dass wir das alte Instrument in so einem ungewohnten Kontext einsetzen.“
Schade, dass der krachende Delta Blues aus der Auvergne nun nicht mehr in dieser Konstellation in Deutschland auf Tour zu erleben sein wird. Mit dem Segen Glomeaus wollen Gouttebel und Chabenat das Projekt aber fortführen – nicht zuletzt im Gedenken an dessen Initiator und Ideengeber.
Aktuelles Album:
Homecoming (Chantilly Negra, 2021)
Videolinks:
Making-of zu Homecoming (mit englischen Untertiteln): www.youtube.com/watch?v=HDizQn0SQfg
Homecoming auf Soundcloud:www.soundcloud.com/muddygurdy/sets/homecoming
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