Ein mit großer Spannung erwarteter Programmpunkt des folkBALTICA-Festivals 2023 war das Duo Ruut aus Estland. Katariina Kivi und Ann-Lisett Rebane treten mit einer Kannel, der estnischen Variante der finnischen Kantele auf. Das Instrument liegt zwischen den beiden, wird zum minimalistischen Gesang von der einen Seite mit den Fingern gezupft, von der anderen Seite mal mit dem Handballen geschlagen oder mit einem Bogen gestrichen.
Text: Jens-Peter Müller
Die Verpflichtung für das deutsch-dänische folkBALTICA-Festival ist nur ein Höhepunkt in der rasanten Karriere des Duos. Die beiden erst knapp zwanzigjährigen Musikerinnen, die aber bereits seit etwa sieben Jahren zusammenspielen, sind regelmäßig in Frankreich und Belgien auf Tour, waren zu Gast bei Festivals in Japan, Usbekistan, der Slowakei, Österreich, Spanien und Norwegen. Auch in Deutschland werden renommierte Veranstalter zunehmend auf diesen exotischen Act aufmerksam – wie etwa der Kultursommer Nordhessen oder der Karlstorbahnhof in Heidelberg. Im vergangenen Jahr eröffnete das Duo Ruut das Stimmenfestival in Lörrach als Support von Max Mutzke. Wenn man das fesselnde, aber zutiefst zurückhaltende, fast stille Auftreten der beiden Estinnen erlebt hat, kann man sich einen größeren Kontrast zu einer Bühnenshow kaum vorstellen. 2019 erschien ihr Debütalbum Tuule Sõnad („Worte des Windes“), 2021 eine EP mit dem Titel Kulla Kerguseks („Goldenes Licht“). Obwohl beide Einspielungen enorme Resonanz gefunden haben und bei den Estonian Music Awards die erste für das „Debütalbum das Jahres“ (2020) ausgezeichnet, die zweite für das „Folkalbum des Jahres“ (2022) nominiert worden sind, entfaltet sich der ganze eigenartige Zauber erst live – egal ob im intimen Rahmen eines norddeutschen Bauernhausmuseums oder beim Abschlusskonzert im weitläufigen Ambiente der Flensburger Robbe-&-Berking-Werft.
Duo Ruut
Foto: Ako Lehemets
Wenn Ann-Lisett Rebane und Katariina Kivi ein Stück beendet haben, erscheint es so, als kehrten sie aus einer anderen Welt zurück und wunderten sich, dass es da noch einen Konzertsaal mit Publikum und heftigem Applaus gibt. Und tatsächlich: „Ja, wenn wir singen und spielen, fühlen wir uns wie in einer Art Blase, in der es nur uns, unsere Stimmen und den Sound des Instrumentes gibt“, erzählen sie im Interview. In dieser anderen Welt sind sie verbunden mit der jahrtausendealten Tradition des Regilaul, der estnischen Variante des in allen finnougrischen Völkern verbreiteten „Gedichtgesangs“, manchmal auch „Runengesang“ genannt. Charakteristisch sind die kurzen, sich oft hintereinander wiederholenden Melodie- und Versteile, wobei sich traditionell zwei Stimmen abwechseln, nur der letzte und erste Ton einer Zeile wird zusammen gesungen. Dadurch werden die Verse ohne Pause miteinander verbunden. Im faszinierenden, synchronen Gesang des Duo Ruut dagegen verschmelzen die Farben der beiden Stimmen zu einem eigenen homogenen Klang.
Erst im neunzehnten Jahrhundert wurde der kulturelle Schatz des Regilaul umfassend aufgezeichnet, aber es ist davon auszugehen, dass die Wurzeln dieser Texte und Melodien bis weit in vorchristliche Zeiten zurückgehen. Damals hatten die Menschen aus einem instinktiven Hellsehen heraus ein anderes Verhältnis zur Natur und zu den geistigen Wesenheiten. In der damit verbundenen Lebensweise erhielten auch die Lieder noch ganz andere Funktionen. Es sind Lieder der Frauen, die sie bei der gemeinsamen Arbeit geteilt haben. Sie waren Bestandteil des alltäglichen Lebens, vermittelten Wissen und Erfahrungen. Sie beschäftigen sich mit Themen wie Ernte und Verarbeitung. Es gibt auffällig viele Lieder über Hochzeitszeremonien, aber auch solche mit magischem Inhalt. So erfährt das staunende Publikum immer wieder von sogenannten Zaubersprüchen und Beschwörungsformeln, um die es auch in den Texten des Duo Ruut oft geht. „Tuule Sõnad“, der Titelsong des Debütalbums, basiert beispielsweise auf einem alten Spruch zur Besänftigung des Windes.
Zu diesen archaischen Liedern mischen Kivi und Rebane auf der Basis des Regilaul neue Songs aus eigener Feder und vor allem moderne, basslastige und perkussive Sounds, die sie ihrem Zitherinstrument mittels Drumstick, Handschuhen, Geigenbogen und geschickt platzierten Mikrofonen entlocken. Dieses experimentelle Konzept spricht in Estland ein großes junges Publikum an. Aber es ist nicht nur eine Frage des Konzeptes. „Folkmusik ist in Estland unter jungen Leuten momentan richtig populär“, betonen Kivi und Rebane. Vorreiter und Vorbilder für die Fusion von natürlichen und technisch erzeugten Klängen sind Gruppen wie Puuluup und Trad.Attack!.
Im Gegensatz zu den Mitgliedern von Trad.Attack!, die wie die Dudelsackspielern Sandra Silamaa mit estnischer Volksmusik aufgewachsen sind, hatten die beiden Frauen des Duo Ruut ursprünglich gar nichts mit dieser Tradition zu tun. Sie begegneten sich als Teenager auf einer Musikschule in Tallin, wo Rebane Klavier und später Bassgitarre lernte, und Kivi Unterricht für Blockflöte und Cello bekam. Ihr gemeinsames Interesse galt eigenen Kompositionen und Songs. „2016 haben wir uns für ein Festival beworben, bei dem es Bedingung war, mindestens ein traditionelles estnisches Stück im Repertoire zu haben. Dadurch haben wir die estnische Volksmusik für uns entdeckt“, erzählen sie. Und wie kam die Kannel und die besondere Spielweise im Duo Ruut in ihr Leben? Beide lachen. „In der Ecke unseres Übungsraumes an der Musikschule stand eine große Konzertkannel, die ewig nicht mehr gespielt worden war. Eines der drei Standbeine fehlte, und so mussten wir es zwischen uns auf unsere Oberschenkel legen, um auszuprobieren, was wir damit anfangen könnten.“
Wahrscheinlich haben sie diese Geschichte schon häufig erzählt, und es scheint, als staunten sie immer wieder über diesen Zufall und alles das, was sich daraus entwickelt hat. Grund genug hätten sie dazu. Es gibt viele großartige Musikerinnen, Musiker und Bands in Estland, aber das Duo Ruut ist möglicherweise die erste Formation, die auch auf der internationalen Bühne mit estnischer Musik wirklich Fuß fassen kann.
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