Während der sogenannten Schleyer-Fahndung, als auf unserer Insel Westberlin jeder einigermaßen Langhaarige, jede Gepiercte an die Seite gewunken, leibesvisitiert, mit Schimpfworten verabschiedet wurde von der Polizei, fanden mein WG-Genosse Rüdiger und ich, wenn wir den Mittelstreifen der Yorkstraße überquerten und an den kleinen leuchtenden Blumenrabatten vorbeikamen, diese sogenannten Oasen wären zweifellos hergestellt, um die Bevölkerung zu besänftigen und abzubringen von ihrer Kampfbereitschaft.
Text: Manfred Maurenbrecher
In Menschen, die sich von Verschwörungen umgeben glauben, kann ich mich bis heute ganz gut hineinversetzen. Und ihre aktuellen Lieder etwa über die Versklavung durch eine eigens dafür erfundene Coronapandemie, vollziehe ich verstandesmäßig nach. Aber mein Gefühl erreichen sie nicht.
Mein politischer Ort ist jetzt dem Regierungslager näher als denen, die sich für eine radikale Opposition halten. Ihrem „Kampf ums Paradies“, um mit Ton Steine Scherben zu sprechen, ziehe ich das mühsame Ringen um Ausgleich und Kompromisse vor – zu viel Schreckliches ist von den Paradieskämpfern jeder Couleur in den letzten fünfzig Jahren angerührt worden.
Lange Zeit war klar, wo die Front verläuft – Freiheit gegen Unterdrückung, Weltfrieden gegen die Kriegsgeilheit, solidarischer Kampf gegen Armut und Ausbeutung. So groß die Begriffe waren, so breit machte sich zwischen ihnen das Unausgesprochene: Pazifisten standen an derselben Barrikade wie reiche Erben, die ihr Geld für den bewaffneten Freiheitskampf in Nicaragua stifteten. Man wollte einig sein und einen gemeinsamen Feind. So wie man heute auf Frieden hofft, gemeinsam „Sag mir, wo die Blumen sind“ singt und erst nachher merkt, dass man neben jemandem gestanden hat, der ein Schild hochhielt mit „Ich habe keinen Krieg mit Russland“ drauf.
Ich bin Westberliner. Der gemeinsame Feind von uns Oppositionellen war seit dem Vietnamkrieg die Außenpolitik der USA mit den NATO-Staaten als ihren Satelliten. Wenn es hieß, da und dort verteidige Amerika „unsere Freiheit“, wussten wir, dass ein imperiales Interesse dahinterstand. „Kein Blut für Öl“ war der populäre Slogan im zweiten Golfkrieg und Neil Youngs ‚Rockin’ In The Free World’ seine antiimperialistische Gegenhymne.
Aber auch damals gab es Kriege, mit denen der nordamerikanische Imperialismus nur indirekt zu tun hatte. Schon 1981 marschierten sowjetische Truppen in Afghanistan ein, was die westdeutsche Friedensbewegung eher widerwillig zur Kenntnis nahm. Ohne Wissen der Bevölkerung wurden in der DDR Atomraketen stationiert – das Gerücht vom zweiten als dem friedlicheren Deutschland hielt sich trotzdem zäh, und das Bild vom Warschauer Pakt als einem geradezu wesensmäßig friedlichen Staatenverbund hat sich in die passenden Köpfe eingebrannt bis heute.
Kurios: Unsere Protestmusik gegen den Imperialismus war im Wesentlichen amerikanisch geprägt – was es an Bürgerprotest in Osteuropa gab und seine musikalischen Wortführer:innen, nahm ich, wie zig andere von uns Gegenkulturellen, kaum zur Kenntnis. Geschweige denn Musik des Aufruhrs aus Dritt- und Viertweltländern. Die wir tatsächlich damals so nannten.
Dann der Zusammenbruch des sozialistischen Lagers nach ’89: Schnell war zu sehen, dass „unser“ Modell der Demokratie in den ehemaligen GUS-Staaten so recht nie in Schwung kam. Ihre wirtschaftliche Basis wurde konsequent kapitalistisch, aber intern war dort bald ein dunkler Nationalismus mehrheitsfähig geworden, gewürzt mit einer – ob westgeneigt oder Russland zugewandt – für uns Mitteleuropäer tief irrationalen Homophobie. Ein „archaisches“ Element, das im Clubleben unserer Erstwelthauptstädte faszinierte. Die slowenische Band Laibach als Vorbild von Rammstein: Da geriet ästhetisch etwas ins Rollen …
Was anfangs „da drüben“ wie aus der Zeit gefallen wirkte, war vielleicht der Anfang eines ganz neuen, antidemokratischen Gegenmodells – weltweit, politisch, auch kulturell. Und je deutlicher es wurde mit dem Stolz darauf, das Individuelle an den Menschen zu brechen oder Diversität für Dekadenz zu halten, desto mehr war unser mitteleuropäisches, linkes Selbstverständnis angegriffen.
Mein Kampf mit den alten Gewissheiten war 2014 so weit gediehen, dass mir auffiel, wie der nationale Trend auch Teile der Linken in der BRD ergriff. Damals schrieb ich ein Lied, „Kiewer Runde“, über die verschiedenen westöstlichen Kräfte, die an der Ukraine in ihrem uneingestandenen Kriegszustand zerrten, und mich erschreckte eine einheimische Sozialismusvariante, die afrikanischen Militärdiktaturen ihre junge, nach Europa fliehende Bevölkerung quasi wie Material zurückführen wollte, als hätten diese Menschen die Pflicht, ihr Leben dort zu verbringen, wo sie auf Staatskosten ausgebildet worden waren. Das von linksaußen zu hören, tat weh. Heute ist es Alltag geworden: Carola Rackete, die Kapitänin, wird von den Nationalisten im Land, links und rechts im Chor, als „Schlepperkönigin“ beschimpft. Was halb witzig sein soll, ist für mich ein Ehrentitel, denn „Hoch die internationale Solidarität!“ gilt für mich weiter – ein Slogan, gerichtet an lebende Menschen, die natürlich überallhin zu reisen und sich überall niederzulassen berechtigt sind. So wie wir. Ein Recht, das weltweit zu erkämpfen ist – „alle oder keiner“! Aber gut möglich, dass nur eine seltsame, altlinke Minderheit bei uns heute noch so denkt. Der Rest möchte sich mit der Mehrheit in Europa lieber abschotten. So, wie man sich auch gegen den menschengemachten Klimawandel gewehrt hat, indem man ihn abstritt, bis die Fakten so laut wurden, dass man nicht taub genug sein konnte fürs Weghören.
„Alle oder keiner“ – diesen an Neil Young geschulten Slogan von Gerhard Gundermann singen jetzt, 25 Jahre nach seinem Tod, garantiert viele mit und recken die Faust, die bei anderer Gelegenheit vehement einen Zuzugsstopp für Flüchtlinge fordern. So sind die Fronten verschoben.
Die Coronazeit erschien mir wie ein Schmelztiegel all der frei flottierenden Weltdeutungen und Problemverleugnungen nach ’89, die jetzt bei emotionaler Hitze festgebacken wurden: Weltelitenverschwörung, Maskensklaverei, Kulturvernichtung. Weniges davon war so hellsichtig wie die naturwissenschaftlichen Fachleute, die sich trauten, auch Irrtümer zu diskutieren. Hätte irgendeine politische Kraft ohne den Überfall Russlands auf die Ukraine es wagen können, mit einer Veränderung der Energieversorgung hier im Land zu beginnen? Konnte der Überfall Russlands vielleicht auch deshalb so ungebremst passieren, weil die internationale Gemeinschaft noch im Bann der Pandemie stand?
Seit dem 24. Februar 2022 jedenfalls finde ich mich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder ganz eindeutig auf einer Seite, an einer Front: der des einem Krieg ausgesetzten ukrainischen Volks, dessen Bevölkerung mehrheitlich nach Mitteleuropa tendiert. Mit nationalistischen, auch faschistischen Gruppen darin, die es anwachsend in vielen unserer Nachbarländer gibt – so wie auch bei uns – und die mittlerweile alle mehr oder weniger direkt von russischen Institutionen unterstützt werden, „unsere AfD“ inklusive. Nur ausgerechnet die Faschisten in der Ukraine, die bei den letzten Vorkriegswahlen dort mit unter 5 Prozent abgeschlagen waren, sollten die Rechtfertigung für einen Krieg in Europa hergeben? Fadenscheinig und zynisch.
Ich wünsche der Ukraine, dass der Angreifer sich verzieht! Wir haben seinerzeit laut und naiv gerufen: „Amis raus aus Vietnam!“ Später: „Amerikanische Truppen raus aus dem Irak!“ Eine „Friedensbewegung“, die es mit keinem Sprechchor, in keiner Ansprache, mit keiner Geste fertigbringt, als ihre Hauptforderung zu nennen „Russische Soldaten raus aus der Ukraine!“, ist keine. Punkt. Alle Hinweise auf eine gezüchtete Feindschaft gegenüber dem russischen Volk laufen leer. Das Volk macht den Krieg nicht. Es trägt allerdings die Schuld daran mit und zahlt die Schulden. Es wird bitter sein, wenn die Menschen aus dem sich festbeißenden Krieg heimkommen werden. Ob immer neue Waffenlieferungen helfen, diesen schnell zu beenden? Mal denke ich: Klar. Mal zweifle ich. Aber wie selbstgerecht wäre es, gebetsmühlenhaft in den Tumult hinein zu predigen: „Waffen bringen keinen Frieden!“? Warum nicht gleich: „Angreifer, nimm dir, was du brauchst!“? Vielleicht geht dieser Kampf um die Unabhängigkeit eines uns benachbarten Staates, der unsere Freundschaft gesucht hat, ja auch verloren. Ich möchte nicht bei denen sein, die da nachgeholfen haben.
Woody Guthrie – das weiß ich aus einem langen Gespräch mit Pete Seeger – hat seinen Songwriterfreunden nach dem Kriegseinstieg der USA gegen Deutschland/Japan ins Gewissen geredet: Es gelte jetzt dringend, die Faschisten militärisch zu schlagen und das mit Liedern zu begleiten. Pete Seeger gab ihm widerstrebend Recht. Guthrie schrieb unter anderem das Lied über die „Miss Pavlichenko“, die erfolgreichste Sniperin der Welt, die über dreihundert Soldaten der deutschen Okkupationsarmee erschossen hat und dafür den Heldenorden der Sowjetunion bekam. Auch Pete Seeger sang dieses Stück Agitation.
Was ihn überhaupt nicht daran hinderte, ein paar Jahre später sein großes Antikriegslied „Where Have All The Flowers Gone“ zusammenzustellen, nach Zeilen Michail Scholochows aus dem Stillen Don, zur Melodie eines Kosakenliedes. Eine pazifistische Hymne, die bis heute um die Welt geht. Mit einer Kraft darin, die Fronten aufzuhebeln.
Hier ein paar Lieder von mir zu den angerissenen Themen. Man kann sie alle gestreamt hören, mehr Freude macht mir eine CD-Bestellung, alle Texte finden sich auf meiner Website www.maurenbrecher.com:
„Welt am Durchdrehn“, No Go (Reptiphon, 2012)
„Kiewer Runde“, Rotes Tuch (Reptiphon, 2014)
„Viel zu früh“, Flüchtig (Reptiphon, 2017)
„Wie weit kann man gehen?“, Flüchtig (Reptiphon, 2017)
„Reichsbürger“ (Single, Download und Stream, 2019)
„Isso“ (Single, Download und Stream, 2020)
„Solche Leute brauchen Heimat“, Inneres Ausland (Reptiphon, 2020)
„Puppen“, Inneres Ausland (Reptiphon, 2020)
„Frieden im Krieg“, Menschen machen Fehler (Reptiphon, 2023)
Was für kluge Worte! Danke …