Ich habe nichts gegen Paderborn. Ehrlich nicht! Es ist nur so, dass Paderborn zufällig mit dem gleichen Buchstaben beginnt und in etwa so viele Einwohner hat wie Prince Edward Island. Daher bietet sich ein statistischer Vergleich an, ohne hier einen wissenschaftlichen Nachweis führen zu können oder zu wollen. Dabei schneidet Paderborn nicht gut ab. Oder gibt es in Paderborn etwa 20plus Top-Folkgruppen?
Text: Mike Kamp
Genug über Paderborn, denn ganz gewiss gibt es auch dort einiges an guter Musik zu hören. Hier jedoch geht es um Prince Edward Island (PEI), die kleinste kanadische Provinz, im Osten gelegen, nördlich von Nova Scotia und im südlichen Golf des Sankt-Lorenz-Flusses. Geografisch ist die Insel flach und hübsch, jedoch landschaftlich eher lieblich und unspektakulär. Aber irgendetwas muss auf dieser Insel anders sein als sonst wo auf der Welt. Sind es die Luft, das Wasser oder die rote Erde, die dafür verantwortlich sind, dass ein spektakulär hoher Anteil der etwas über 150.000 Einwohner musikalisch höchst talentiert ist, und zwar vor allem folkmusikalisch?
Ein Blick auf die Geschichte und die Einwanderer kann bei dieser Frage weiterhelfen. Zuerst bewohnten die Ureinwohner der Mi’kmaq-Indianer die Insel, die noch in zwei kleineren Siedlungen leben – insgesamt hat sich ihre Lage kanadaweit erst in den letzten 25 Jahren etwas verbessert und ihre Rechte werden heute anerkannt. Aber dann kamen die Europäer! Zuerst die Franzosen, die heute nur noch in der Gegend um Evangeline siedeln; dann ab Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die Engländer, die Schotten und die Iren. Die anglophile Kultur wurde schnell dominant. Man muss sich nur mal die Namen der Siedlungen ansehen: Cornwall, Belfast, New Glasgow, Kensington oder Victoria. Und die Insel ist unterteilt in Kings County, Queens County und – es war ja fast zu erwarten – Prince County. Hauptsächlich schottisch/irisch/englisch ist denn auch die akustische und traditionelle Musikszene ausgerichtet, ab und zu mit ganz dezenten Americana-Einsprengseln.
Es waren also wenig überraschend die Einwanderer, die ihren Einfluss ausübten, ganz besonders die Schotten Ende des achtzehnten Jahrhunderts und dann die Iren etwas später. Das dominierende Instrument war aus diversen Gründen die Fiddle, wie Ken Perlman in seinem fantastischen Buch Couldn’t Have a Wedding without the Fiddler nachgewiesen hat (siehe Folker 1/2019, S. 82). Die Fiddle ist auch heute wieder ein ausgesprochen populäres Instrument, nachdem sie Mitte des letzten Jahrhunderts kaum noch beachtet wurde, dann aber durch die Nachbarn auf Cape Breton und dortige Könner wie Natalie MacMaster oder Ashley MacIsaac ein Revival erfuhr. Auch das hat Perlman nachvollziehbar herausgearbeitet.
Die nachbarschaftliche Hilfe ist jedoch seit vielen Jahren nicht mehr nötig. Die alten PEI-Fiddle-Haudegen sind wieder oder immer noch aktiv und es gibt erfreulichen Nachwuchs. Richard Wood insbesondere galt vor Jahrzehnten als Kinderstar der Fiddleszene. Heute ist er regelmäßig mit seinem vertrauten Kumpel Gordon Belsher an der Gitarre unterwegs – ein erfahrener Könner, kanadaweit bekannt zum Beispiel durch seine Zusammenarbeit mit Shania Twain.
Ganz anders musiziert die Atlantic String Machine – fünf klassisch ausgebildete Saitenmusiker (zwei Damen, drei Herren), denen ihr Korsett zu eng wurde und die fröhliche Elemente aus Folk, Jazz, Rock und was ihnen sonst noch passt vermischen. Gefragt sind sie einzeln oder allein auf PEI auch als Kollaborateure, wie sich noch herausstellen wird. An einem denkwürdigen Abend bei Showcase PEI 2019 teilten sie die Bühne zum Beispiel mit der Singer/Songwriterin und Keyboarderin Rachel Beck, die sich diverser Versatzstücke aus der Folk- oder besonders der Popkiste bedient. Mit ihrer Schwester Amy startete sie als folkorientiertes Duo Beck Sisters, bevor Rachel erfolgreich Richtung Mainstream abbog, wobei ihre Schwester weiterhin als Schlagzeugerin mit von der Partie ist.
Auch Irish Mythen greift auf ihrem wunderbaren aktuellen Album Little Bones auf die flexiblen Dienste der Atlantic String Machine zurück. Der Name lässt es vermuten: Die irischstämmige Künstlerin ist auf der Bühne immer solo und ein oft explizit politisches, kommunikatives Energiebündel mit unglaublicher Stimme. Wer einmal ihre A-cappella-Version des Dominic-Behan-Klassikers „The Auld Triangle“ gehört hat, wird sie nie wieder vergessen. Auf Little Bones jedoch zeigt sie auch ihre weiche und nachdenkliche Seite.
Der erfahrene und weit über die Inselgrenzen hinaus bekannte Lennie Gallant weiß – wenig überraschend – ebenso die Talente der Atlantic String Machine auf seinem letzten Album Time Travel einzusetzen, das dreizehnte seiner Karriere. Gallant hat unzählige Preise erhalten und schreibt Lieder in der Tradition zum Beispiel eines Gordon Lightfoot, die er mit seiner rauen, aber sympathischen Stimme und einer kompakten Band überzeugend interpretiert.
Tara MacLean hatte seit Mitte der Neunziger als Solistin und als Teil des Damentrios Shaye Erfolge. Dann widmete sie sich der Erziehung ihrer drei Töchter. 2017 kam sie zurück mit einem Album und einer Show mit dem Titel Atlantic Blue, einer Ode an die atlantischen Provinzen Kanadas und ihre Songwriter. Genau diese Show hatte sie über einige Wochen in Charlottetown aufgeführt, um dann doch noch einen Abstecher zu Showcase PEI 2019 zu machen. Lediglich begleitet von einem Gitarristen überzeugte MacLean mit Songs, Stimme und Bühnenpräsenz, routiniert und dennoch erfrischend.
Die fünf letztgenannten Künstler bestritten einen umwerfenden Abend im über sechzigjährigen Watermark Theatre in North Rustico, einem maßgeschneiderten Veranstaltungsort – eigentlich für Theaterproduktionen, aber das etwas über hundert Sitze bietende Auditorium lässt sich auch bestens für Konzerte nutzen. Ein weiterer Veranstaltungsort mit in diesem Falle über hundertjähriger Geschichte ist das atmosphärische Victoria Playhouse im gleichnamigen Dorf direkt am Meer. Auch hier werden in erster Linie Theaterstücke aufgeführt, und auch diese Kastenbühne mit einem Saal mit über einhundertfünfzig Plätzen eignet sich problemlos für Musik. Ein weiteres Beispiel für lokale Veranstaltungsräume ist The Mack in der Inselhauptstadt Charlottetown mit seinen gut zweihundert Plätzen. Hier wird ein städtisches Publikum angesprochen und die Innenausstattung geht eher in Richtung Clubszene.
Sarah Lesch; Foto: Sandra Ludewig
Das sind für PEI eher große Hallen. Man gibt sich dem ländlichen Charakter des Großteils der Insel entsprechend aber auch mit kleineren Veranstaltungsorten zufrieden, etwa Gemeindesälen oder Kirchen. Die gibt es überall zuhauf, und als Folge dieser Struktur entstand das jeweils im Juni auf PEI stattfindende Festival of Small Halls – Konzerte über die ganze Insel verteilt, vor manchmal nicht mehr als dreißig bis vierzig Gästen. Diese Idee wurde mittlerweile weltweit kopiert, mit ähnlichen Festivals zum Beispiel in Australien oder Schottland.
Ein weit über die Insel hinaus bekannter Veranstaltungsort für Folkkonzerte ist das Trailside Music Café. Eigentlich gibt es keinen internationalen Rootskünstler auf Kanadatournee, der nicht hier Halt macht. Bühne und Raum sind klein – so sorgte Irish Mythen an vier aufeinanderfolgenden Abenden für das „Sold-Out“-Schild an der Tür –, aber urgemütlich. Auch hier gaben sich an einem schönen Oktobernachmittag vier lokale Künstler ein Stelldichein. Lawrence Maxwell tendiert eigentlich in Richtung Countryfolk, speziell, wenn er in Duoformation spielt. Aber er kann es auch deutlich härter, etwa beim Opener „Stumbling Sailor“ seines bereits preisgekrönten Debütalbums Not Your Outlaw. Teresa Doyle ist eine erfahrene Künstlerin, die in vielen Genres glänzt und – das ist eher selten – mit ihrem Sohn tourt, dem Multiinstrumentalisten Patrick Bunston. Seinen internationalen Weg wird das junge Quartett Inn Echo machen. Die zwei Jungs und zwei Mädels konzentrieren sich auf ihre irischen und akadischen Wurzeln, mischen diese aber geschickt mit Jazz- und Indie-Elementen. Catherine MacLellan braucht eigentlich keinen Showcase mehr, aber die Juno-Preisträgerin wirkt trotz ihrer Erfahrung sehr bescheiden und zurückhaltend. Auf ihr neues und siebtes Album Coyote darf man gespannt sein.
Außerdem: Bei Alicia Toner weiß man nicht so genau, ob man sie als glamouröse Schauspielerin oder doch eher als Folkpop-Singer/Songwriterin mit Fiddle und Piano oder als beides bezeichnen soll, das französischsprachige Trio Vishtèn zählt sicherlich bereits zu den weltweit bekanntesten Gruppen der Provinz, und dasselbe gilt für die East Pointers, die 2019 den Showcase ausließen.
Alle diese Künstler verstehen sich explizit als zur Ostküste zugehörig. Das spricht für eine lebendige lokale Szene, und so ist es auch. Selbst im Oktober, mehr oder weniger jenseits der Touristensaison, listet die lokale Tageszeitung The Guardian (nicht mit der englischen Version zu verwechseln) pro Woche über zwanzig Ceilidhs, Jams oder Kitchen Parties, alles rein akustisch, sowie gute dreißig Konzerte aus den Bereichen Folk und akustische Musik. Das monatliche Veranstaltungsmagazin The Buzz bestätigt diese Zahlen und so gut wie alle dort besprochenen neuen CDs haben irgendeine Folkverbindung. Auf PEI wird zuvorderst zur Freude und Unterhaltung der Einheimischen musiziert, die dieses Angebot offensichtlich zu schätzen wissen.
Nun mögen sich die Talente auf PEI so zahlreich tummeln wie der berühmte rote Hummer in den Gewässern rund um die Insel, dennoch muss irgendwer der Außenwelt klarmachen, welche musikalischen Schätze denn da auf dem Geburtsort der kanadischen Föderation zu entdecken sind. Das ist die Aufgabe von Music PEI und ihrem Executive Director Rob Oakie. Music PEI ist eine Art Selbstorganisation der lokalen Musiker und wird von der Provinzregierung beziehungsweise der Abteilung für Tourismus und Kultur finanziert. Sie benutzt ihr Budget, um unter anderem zwei wichtige Veranstaltungen durchzuführen: Music PEI Week, die eher der Auszeichnung lokaler Akteure dient, und Showcase PEI, wo in erster Linie Delegierte aus Restkanada und aller Welt eingeladen werden, um ihnen die Talente der Insel ans Herz zu legen. Music PEI ist den Mitgliedern gegenüber verantwortlich, die auch den Vorstand stellen. Aktuell fungiert Catherine MacLellan als Präsidentin.
Bei dem Zusammenhalt der Szene ebenso wie bei Music PEI zeigt sich, dass die kleine Inseleinheit von 150.000 Einwohnern durchaus von Vorteil sein kann: Rob Oakie ruft Premierminister Dennis King an und lädt ihn zum Showcase-Konzert im Watermark Theatre ein, und der kommt dann auch tatsächlich, einfach weil er die Musik mag und seine Künstler unterstützen möchte. Kurze Wege können durchaus erfolgreich sein.
Auswahldiskografie:
Rachel Beck, Rachel Beck (Eigenverlag, 2018)
Lennie Gallant, Time Travel (Gallant Effords Productions, 2018)
Tara MacLean, Deeper (Eigenverlag, 2019)
Catherine MacLellan, Coyote (IDLA, 2019)
Lawrence Maxwell, Not Your Outlaw (Eigenverlag, 2018)
Irish Mythen, Little Bones (Myth Records, 2019)
Alicia Toner, I Learned The Hard Way (Eigenverlag, 2017)
0 Kommentare