Samarkand

Weltkulturerbe mit Shashmaqâm und Dutar

6. Januar 2020

Lesezeit: 5 Minute(n)

Samarkand! Gewaltige Kuppeln über imposanten historischen Medresen, in denen Islam und Wissenschaft gelehrt wurden, und Grabmäler in beeindruckenden Dimensionen – von Kacheln in einzigartigen Blau- und Türkistönen bedeckt. Eine der üblichen Übertreibungen von Reiseveranstaltern? Durchaus nicht.
Text: Willi Klopottek

Wer in diese uralte Oasenstadt an der Seidenstraße im heutigen Usbekistan reist, wird eine moderne Stadt vorfinden, die auch ganz viel darauf hält, ihr einzigartiges geschichtliches Erbe zu pflegen. Dort existiert eine ebenso alte wie reiche Musikkultur. Natürlich ist heimischer Pop allgegenwärtig, aber usbekische Klassik und Volksmusik sind heute noch sehr lebendig. Seit 1991 sind die Länder Zentralasiens, die einst zum Zarenreich und dann zur Sowjetunion gehörten, unabhängig. Allerdings ist die dortige Musik im Westen kaum bekannt. Das liegt unter anderem daran, dass sie im Gegensatz zu der in Amerika und Afrika von der rigorosen kulturellen Übernahme westeuropäischer Kolonialisten unberührt geblieben ist. Trotz zeitweiliger sowjetischer Verformungen, etwa durch Orchestrierung, konnte sich die Musik in Zentralasien im Wesentlichen nach eigenen Regeln entwickeln und klingt entsprechend unvertraut, aber keineswegs ungewöhnlicher als die bei uns relativ bekannte indische Musik.

Eine ausgezeichnete Gelegenheit nicht nur das musikalische Zentralasien zu erleben, ist das im Zwei-Jahres-Rhythmus stattfindende internationale Musikfestival Sharq Taronalari, übersetzt „Melodien des Ostens“. Die zwölfte Ausgabe dieses Festivals fand 2019 wie gewohnt Ende August auf dem berühmten, von drei mächtigen Medresen umgebenen Registan-Platz im historischen Zentrum Samarkands statt. Es waren 33 traditionelle Gruppen aus aller Welt eingeladen, die schwerpunktmäßig aus Asien und vor allem aus Usbekistan und seinen Nachbarländern kamen. Letztere standen über die historische Seidenstraße Jahrhunderte lang kulturell in enger Beziehung miteinander, weshalb es kein Wunder ist, dass es dort eine große Vielfalt an verwandten Musikstilen und -instrumenten gibt. Das Gastgeberland schickte vier Ensembles in den zum Festival gehörenden Wettbewerb, bei dem mehrere Preise zu vergeben waren.

Die Musik der Länder Zentralasiens und vor allem Usbekistans sowie deren Instrumente verdienen Aufmerksamkeit, weil sie erstens einen ganz besonderen Klang besitzen und zweitens zu den am wenigsten im Westen wahrgenommenen gehören. Vor Jahrhunderten entstand an den Höfen der Herrscher des heutigen Usbekistans der Shashmaqâm – persisch für „sechs Modi“. Das ist eine hoch entwickelte Klangkunst, die in enger Beziehung zur Dichtkunst des Sufi-Mystizismus steht und die Volksmusik nachhaltig prägt. Stalin unterdrückte die Kunstmusik, ab Mitte der Fünfzigerjahre konnte der Shashmaqâm wieder erstarken.

Die usbekische Dutar

Es besteht eine enge Wechselbeziehung zwischen Musikinstrumenten und -formen. Die Konstruktion und der Klang der usbekischen Instrumente bedingen die dortigen Musikstile. Ein zentrales Saiteninstrument Usbekistans, sowohl in der klassischen als auch in der volkstümlichen Musik, ist die Dutar-Laute, die auch in Nachbarländern bis hin zum nördlichen Iran zu finden ist. Dieses birnenförmige Instrument mit langem, schmalem Hals besitzt lediglich zwei Saiten, die wahlweise gezupft oder angeschlagen werden. In Nachbarländern sind es oft Saiten aus Nylon oder Stahl; in Usbekistan werden jedoch üblicherweise Saiten aus Seide verwendet, die einen besonders weichen Ton bewirken. Der Korpus besteht aus dem Holz des Maulbeerbaumes. Klanglich hat das Instrument eine gewisse Ähnlichkeit mit der türkischen Saz und der Bağlama, die aber mehr Saiten aufweisen, die zudem aus Stahl gefertigt sind. Offenbar hat sich die Dutar aus dem Barbat entwickelt, der auf dreitausend Jahre alten Terrakottafiguren aus dem heutigen Iran zu sehen ist. Daraus sind auch die chinesische Pipa und die arabische Laute entstanden.

„Die Musik in Zentralasien klingt unvertraut, aber keineswegs ungewöhnlicher als indische Musik.“

Die Wiege der Lauten liegt also offenbar im mittleren Asien. Die Dutar ist das Instrument der erst zwanzigjährigen Mekhrinigor Abdurashidova, die am letzten Tag des Sharq-Taronalari-Festivals eine erstaunliche Virtuosität auf diesem Instrument bewies und dafür den Grand Prix erhielt. Mit rasanten Melodieläufen und einer Energie, die mich tatsächlich an Rock ’n’ Roll erinnerte, lösten die junge, lächelnde Musikstudentin und ihre beiden Percussionisten aus der westusbekischen Choresm-Region Begeisterungsstürme nicht nur beim heimischen Publikum aus. Zu dieser althergebrachten akustischen Musik tanzten alte und junge Usbekinnen und Usbeken enthusiastisch.

Weitere Instrumente Usbekistans

Mekhrinigor Abdurashidovas Dutarspiel wurde unter anderem von der Doira begleitet. Die Doira ist eine Rahmentrommel, die auf der inneren Rückseite mit Schellen versehen ist. Die Virtuosen dieses Instruments, das in ganz Zentralasien unter verschiedenen Namen verbreitet ist, können mit den Fingern hoch komplizierte Rhythmen spielen und unterschiedliche Klangfarben hervorrufen. Beliebt sind auch Kastagnetten aus Stein, die Qairaq genannt werden.

Einige Experten halten es für möglich, dass die taillierte Form der europäischen Gitarre auf die Tar zurückzuführen ist, denn die Korpusform dieser Langhalslaute erinnert an eine Acht. Sie findet man vom Kaukasus bis zum Iran, und sie spielt auch in Usbekistan eine wichtige Rolle. Je nach Region besitzt die Tar unterschiedlich viele Saiten, und auch die Art der Bundierung variiert. Zumindest in Usbekistan wird die offene Front des Korpus mit dem Herzbeutel eines Rindes bespannt.

Die im Nordwesten Chinas lebenden Uiguren haben die Rawap entwickelt, die in ihrer usbekischen Version Kashgar Rubab genannt wird. Typisch sind der lange, mit fünf Saiten versehene Hals, der kleine, runde Korpus und zwei nach unten weisende Hörner am Hals-Korpus-Übergang. Das Instrument überrascht mit einem perkussiven Klang, der dem des Banjos ähnelt. Die usbekische Tanbur, die es unter ähnlichen Namen und in verschiedenen Bauvariationen bei den Kurden bis hin zu den Uiguren gibt, sieht wie eine zierliche, schmalere Dutar aus. Im Gegensatz dazu hat die Tanbur aber nicht zwei, sondern bis zu fünf Saiten, von denen eine gezupft wird und die anderen als Bordunsaiten wirken. Im klassischen usbekischen Shashmaqâm dient sie zur Begleitung des Gesangs.

„Die Wiege der Lauten und der gestrichenen Instrumente liegt offenbar im mittleren Asien.“

Das bedeutendste Streichinstrument Usbekistans ist die Ghijak, eine Spießgeige, die mit der auch in Usbekistan gebräuchlichen persischen Kamantsche verwandt ist. Experten nehmen an, dass nicht nur die Wiege der Lauten, sondern auch die der gestrichenen Instrumente in Zentralasien stand. Zu den Streichinstrumenten gehört auch die Sato mit fünf Saiten und einem Korpus, aus dem seitlich zwei kleine Hörner herausstehen, die auch als Zupfinstrument Verwendung findet.

Es gibt viel zu entdecken

Heute ist es einfach, das Land zu bereisen und sich von den historischen Plätzen und der Freundlichkeit der Menschen beeindrucken zu lassen. Aber man sollte sich nicht entgehen lassen, unbedingt die spannende Musik Zentralasiens kennenzulernen. Wer die Möglichkeit hat, ein Festival oder Konzert dort oder vielleicht sogar in Europa zu besuchen, sollte dieses außergewöhnliche Erlebnis auf keinen Fall verpassen. Für mich, der einen gewissen Überblick über diese Musik hatte, war das Sharq-Taronalari-Festival jedenfalls eine überaus gelungene Veranstaltung, die mir die Ohren noch viel weiter geöffnet und das Verständnis für diese ganz anderen Musikstile erheblich vertieft hat. Leider gibt es in Westeuropa praktisch keine aktuellen Musikaufnahmen. Aber das US-amerikanische Label Smithsonian Folkways hat vor einigen Jahren eine zehnteilige Serie mit jeweils einer CD, einer DVD und erstklassigem, wissenschaftlichem Booklet zur Musik und den Instrumenten ganz Zentralasiens inklusive Usbekistans herausgebracht. Diese Reihe ist mit Music Of Central Asia betitelt, weiterhin erhältlich, und sie gehört in das Plattenregal aller Musikfreundinnen und -freunde mit offenen Ohren. Mein Wunsch an Konzertveranstalter und Plattenfirmen: „Mehr Zentralasien, bitte!“

Albumtipp:

Diverse, Music Of Central Asia, Vol. 1-10 (Smithsonian Folkways, 2006-2012)

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