Torgeir Vassvik

Die Natur ist das Instrument

8. September 2019

Lesezeit: 4 Minute(n)

„Jede Generation katapultiert einen Helden in die Pop-Charts.“ Diesen Satz von Paul Simon zitierte der norwegische Journalist Arne Berg, nachdem er miterleben durfte, wie der samische Sänger Torgeir Vassvik mit seiner Gitarre und einem Streicherensemble 2016 die Menge beim Roskilde Festival fesselte und zutiefst berührte. „Aber“, so Berg weiter im Booklet des neuen Vassvik-Albums Gákti, „für einige der großen, abenteuerlustigen Seelen war in den Pop-Charts kein Platz: Tom Waits, Dr. John, Captain Beefheart – du bist in guter Gesellschaft, Vassvik.“
Text: Jens-Peter Müller

Ähnlich euphorisch waren meine Gefühle bei der ersten Begegnung mit Torgeir Vassvik. Als Moderator hatte ich 2015 im Rahmen des Norwegen-Schwerpunktes des TFF Rudolstadt ihn und den norwegischen Tänzer Hallgrim Hansegård im Landestheater anzukündigen. Was dann folgte, war spektakulär, war musikalische, schauspielerische und artistische Höchstleistung, war eine bisher so nie dagewesene Verbindung von traditioneller norwegischer Volkskunst und der durch die dominante Kultur des norwegischen „Herrenvolkes“, wie Mari Boine einmal sang, jahrhundertelang unterdrückten Lebensweise und Kultur der skandinavischen Ureinwohner. „Leahkit“ („Gegenwärtigsein“) hieß das Programm, mit dem beide die tranceartigen Qualitäten des samischen Joiks und des traditionellen Solotanzes Halling erforschten. Vassvik mit gutturalem Joik, mit hohem und tiefem Kehlkopfgesang, mit eindringlichen Rhythmen auf der Rahmentrommel und souligen Riffs auf seiner in der Art einer tuwinischen Doshpuluur eingerichteten Gitarre. Hånsegard, Leiter des experimentellen Tanzensembles Frikar, geschmeidig und explosiv.

„Der samische Joik ist sehr dehnbar.“ Ob es nach dieser Performance war, ob es überhaupt Vassvik war, der diesen Satz gesagt hat, ich weiß es nicht genau. Auf alle Fälle ist die Beschreibung großartig und erklärt, warum es gerade samische Künstlerinnen und Künstler wie Torgeir Vassvik, Ulla Pirttijärvi, Wimme und Mari Boine waren, die in den letzten zwei Jahrzehnten für musikalische Highlights aus dem Norden sorgten.

In seiner Urform, die Vassvik auf den ältesten verfügbaren Aufnahmen vom Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts studiert hat, ist der Joik ein unbegleiteter Sologesang. Man kann Worte verwenden für die Personen, Tiere und Naturerscheinungen, die man joikt, muss es aber nicht. Auch die Grundlage einer Melodieführung ist oft minimalistisch und nicht festgelegt auf das westliche Dur-Moll-Empfinden. Das lädt zu immer neuen Interpretationen und Improvisationen ein, je nach Stimmung und Situation. Mit Ausnahme von wenigen Trommelklängen hört man keine Instrumente – im engen Sinne. „Die Natur ist das Instrument“, lautet ein schönes Bild von Torgeir Vassvik.

„Wir geben mit unserer Musik den Menschen die Natur zurück.“

Draußen in der Weite und der Einsamkeit des samischen Siedlungsraumes hat der Joikgesang trotz der Verbote von Staat und Kirche überlebt, im Klang des Windes, im Rauschen des Wassers, bei den Rufen der Rentiere und dem Singen der Vögel. „Wir geben jetzt mit unserer Musik, mit unseren Instrumenten den Menschen die Natur zurück. Das ist gut, auch für die Menschen in Deutschland.“

Für Torgeir Vassvik ist der arktische Osten eine sehr wichtige Inspirationsquelle. Zahlreiche Reisen führten ihn nach Sibirien, insbesondere nach Tuwa und weiter nach Südkorea, Japan und Kanada. Seine Komposition „East“ vom neuen Album, bei der er auch das tuwinische Saiteninstrument Igil spielt, ist den sibirischen Freunden gewidmet, mit denen er sich im Hinblick auf Rhythmen, Gesangstechniken und der Sicht auf die Welt sehr verwandt fühlt. „Kern der Sámi-Kultur ist der Animismus. Alles ist miteinander verbunden, alles lebt“, sagt er. Die Titel „Voodoo Against Arctic Oil Drilling“ und „Global Fever“ sind Statements für sein auch aus dieser Sicht resultierendes gesellschaftspolitisches Engagement, während „Sister“ eine Liebeserklärung an die Kraft der Frauen ist.

2006 erschien Vassviks erstes Album Sáivu, produziert vom grandiosen norwegischen Jazztrompeter Arve Henriksen, 2009 Sápmi. Aktiv geworden ist er auch in Bildungsprojekten. Tausende von Kindern haben über ihn die samische Geschichte und Musikkultur kennengelernt. Seit seinem neunten Lebensjahr mache er Musik, erzählt er. Seit 25 Jahren lebe er zwar in Oslo, kehre aber, wann immer es gehe, nach Sápmi, den Kulturraum der Samen, zurück. In dem Dokumentarfilm Wo Worte nicht hinreichen, den die Regisseurin Josephine Links rund um das Festival 2015 in Rudolstadt gedreht hat, sieht man den Künstler maultrommelspielend in Oslo in der Straßenbahn, dann steht er in der baumlosen Weite Nordnorwegens. Dort ist Torgeir Vassvik in der Provinz Finnmark aufgewachsen, in dem Ort Gamvik an der Barentssee, am nördlichsten Punkt, den man auf dem europäischen Festland erreichen kann. Es ist eine raue, karge Landschaft, für die er auf Gákti das Stück „At The Stone Desert“ verfasst hat. Dann meint man im Film mitten im Sommer Nordlichter zu sehen. Aber es sind die Blitze eines Gewitters, das über Rudolstadt und die Bühne im Heinepark hinwegzieht, auf der Vassvik mit seinem Streichertrio steht. Eine unglaubliche Szene.

Torgeir Vassvik

Foto: Bart Vanoutrive

Seit gut zwei Jahren arbeitet Torgeir Vassvik mit den beiden jungen Geigern Hans und Rasmus Kjorstad zusammen. Die Brüder kommen zwar unüberhörbar aus der norwegischen Fiddletradition, ihrem Spiel auf Gákti kann man aber durchaus auch den Stempel Avantgarde im Sinne der neuen klassischen Musik aufdrücken. Der Albumtitel bedeutet in etwa „Gewand“, eine feine Anspielung auf die farbenfrohen Trachten der Samen und das Kleid der Natur. „Es hält unsere Identität lebendig. Es schützt uns, so wie das Eis wichtige Teile der Erde bedecken soll. Mein persönliches Gewand ist die Musik, die tief im Joik und der Sámi-Kultur verwurzelt ist, der ich aber gleichzeitig auch neue experimentelle Muster und Designs hinzufüge.“ Am musikalischen Gewand webte auch der Sounddesigner Audun Strype mit. Sechs Tracks auf Gákti hat Vassvik jedoch komplett solo eingespielt und gemischt, was dem Gesamtwerk noch mehr Klangfarben verleiht.

„Áhpi Goaskin“ („Vater ist ein Adler“) ist eines meiner Lieblingstücke. Mit dem Bild des Adlers hat Mari Boine in ihrem Song „Goaskinviellja“ von 1993 einen großen Hit gelandet. Rhythmisch, tanzbar. Vassvik und seine Mitstreiter nehmen uns ebenfalls mit in die Lüfte. Die Geigen ziehen ihre sphärischen Kreise, und der Same schafft es, eine groovige Linie auf seine vier Gitarrensaiten zu zaubern, die nicht Richtung Erde, sondern himmelwärts strebt. Es ist nichts zum Nebenbeihören, was uns der eigenwillige Musiker und Sänger präsentiert. Nichts für die Mainstream-Charts. Aber etwas sehr Kostbares und Heilsames.

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vassvik.com

Aktuelles Album:
Gákti (Heilo/Grappa Musikkforlag, 2019)

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Aufmacher-Foto:

Torgeir Vassvik

Foto: Bart Vanoutrive

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