Dreißig Jahre Far Out Recordings

Brasilianische Musik abseits des Mainstreams

1. Juli 2024

Lesezeit: 4 Minute(n)

Wenn es jemanden gibt, der uns eine andere brasilianische Musikszene zu Gehör bringt als die der seit Jahrzehnten bekannten Festivalstars, dann ist es Joe Davis mit seinem Label Far Out Recordings, das er 1994 in London gründete. Das Besondere: Er veröffentlicht Alben von Acts, die in Brasilien gar nicht vertrieben werden. Und Far Out fördert brasilianische Newcomer mit eigenwilliger Klangästhetik, zaubert immer wieder grandioses Unveröffentlichtes bekannter Namen aus den Archiven und hat die brasilianische Musik in die englischen Clubs gebracht. Genug Gründe, um auf dreißig Jahre Labelgeschichte zurückzublicken.
 Text: Hans-Jürgen Lenhart

Ein älteres Geschäftshaus im Londoner Stadtteil Ealing an einer belebten Straße. Das Büro von Far Out Recordings ist in dem verwinkelten Haus nicht gleich zu finden. Dann erwartet einen ein kleiner Lagerraum, in dem sich Vinylalben in unzähligen Kartons für den Versand befinden. In Zeiten von Streaming und Internet arbeiten fast alle Mitarbeiter im Homeoffice, erklärt Labelmanager Joe Davis. Die Musikproduktionen finden in Brasilien statt, also gibt es hier auch kein Studio.

Davis ist es zu verdanken, dass einflussreiche Bands und Musikschaffende wie die Sambajazzer Azymuth oder die Ikone der zweiten Bossa-Nova-Welle, Marcos Valle, nach jahrelanger Abstinenz ins Studio zurückkehrten. Die beiden Acts bestimmen den Sound des Labels mit ihrer relaxten Mischung aus brasilianischer Musik, Jazz, Funk und Pop. Seine Begeisterung für das Sammeln von Schallplatten führte Joe Davis als Teenager nach Brasilien. Er erinnert sich:

„Ich handelte Ende der Achtzigerjahre mit Platten in Brasilien und stellte fest, dass meine musikalischen Helden wie Marcos Valle nichts mehr aufnahmen. Gleichzeitig spielten DJs wie Patrick Forge in den englischen Clubs im Rahmen der Acid-Jazz-Szene zunehmend sehr erfolgreich alte Sachen aus Brasilien. Und ich habe die dann als einer der Ersten mit Nachschub versorgt. Damit konnte ich so viel Geld machen, dass ich beschloss, eine Plattenfirma zu gründen. Und so begann ich meinen Traum, mit diesen Leuten Alben zu produzieren. Die Studios in Brasilien waren damals veraltet, und ich wollte die Musiker in modernerer Klangqualität aufnehmen. Später kamen dann die Remixe dazu.“

„Ich suche immer nach Leuten, die einzigartig klingen, und genau solche gibt es in der MPB ständig.“

Joe Davis

Foto: Hans-Jürgen Lenhart

Die Jazzdance-Sets von Davis und Patrick Forge zusammen mit dem bekannten DJ und Weltmusikmoderator Gilles Peterson im Camdener Club Dingwalls führten zu riesigem Interesse an brasilianischer Musik. Später wurde dies durch Remixe von Far-Out-Produktionen, Kompilationen und Mixserien wie die Brazilika-Reihe noch befeuert. Für viele jüngere Musikliebhabende wurden diese Veröffentlichungen der Erstkontakt zu brasilianischer Musik.

Joe Davis’ Mentalität, in alten Plattenkisten zu wühlen, war auch die treibende Kraft hinter dem Ausgraben vergessener Meisterwerke. Stellvertretend dafür soll die Wiederveröffentlichung des trippigen Acid-Folk-Albums Visions Of Dawn von Joyce Moreno, Nana Vasconcelos und Mauricio Maestro aus dem Jahr 1976 genannt werden. Ein Meisterwerk, bei dem die Kunst des sphärischen textlosen Gesangs – eine brasilianische Spezialität – auf höchstem Niveau stattfindet. Auch bislang Unveröffentlichtes treibt Davis auf wie Planetário Da Gávea des Jazzers Hermeto Pascoal in Höchstform. Doch muss man von diesen verschwundenen Schätzen erst einmal gehört haben, und so erklärt Davis: „Da spielen Zufälle eine Rolle. Manchmal veröffentlichen Musiker, die an einem solchen Album beteiligt waren, einen Track, und wenn mir das gefällt, hake ich nach, ob es da mehr gibt.“

Das Label bedient viele Musikstile wie Samba, Jazz, Música Popular Brasileira (MPB), Soul, Disco, bis hin zu House, Broken Beat und Electronica, die aber alle einen Bezug zu Brasilien haben. Das Spektrum reicht vom wilden Jazzpianisten Amaro Freitas bis zur entspannt groovenden Sängerin Sabrina Malheiros, die eine gute Alternative zu Nu-Bossa-Star Bebel Gilberto war. „Sabrina Malheiros hat leider aufgehört zu singen. Sie studiert jetzt Pflanzenkunde und hat sich wohl nie richtig auf die Bühne getraut, was ich schade finde“, erzählt Davis.

Binario

Foto: Far Out Recordings

Dennoch bietet Far Out Recordings vielen brasilianischen Musikschaffenden die Möglichkeit, überhaupt veröffentlicht zu werden. In Brasilien selbst wurden die Far-Out-Alben bisher gar nicht vertrieben. Das mag seltsam klingen, aber: „Einen funktionierenden Vertrieb in Brasilien aufzubauen, ist schwierig. Inzwischen kann man die Alben downloaden und streamen, und es gibt einige unabhängige Läden dort, die sie verkaufen. Aber mein Hauptabsatzmarkt ist neben England Japan, und manches läuft inzwischen sogar gut in Südkorea und China.“

Selbst Disco bedient Far Out, natürlich auf brasilianisch. So finden sich beim Far Out Monster Disco Orchestra Mitglieder von Azymuth und den Rio-Funk-Pionieren Banda Black Rio. Selbst Altstar João Donato hat mit seinem Sohn Donatinho noch kurz vor seinem Tod das Discoalbum Sintetizamor veröffentlicht.

Schon immer ist Far Out Recordings Lieferant für eine Reihe von Neuentdeckungen, die als Trendsetter gelten, mit einer innovativen Klangästhetik, die aufhorchen lässt. Das geht von der schrägen, futuristischen Jazzband Binario über den sanften, aber sehr melodiösen Popexperimentierer Bruno Berle bis zum psychedelischen Ambient Folk eines Lau Ro. Acts, die das Genre MPB neu definieren. „Ich suche immer nach Leuten, die einzigartig klingen, und genau solche gibt es in der MPB ständig. Aber man kann sie immer noch dazu zählen“, erklärt Davis.

Lau Ro

Es ist Musik, die in deutschen Radiowellen meist außen vor ist und sich hierzulande auch sonst nur selten in Spezialsendungen verirrt. Offensichtlich gibt es in England aber noch Radiosender wie etwa den Digitalsender BBC 6, dessen Einfluss bei der Verbreitung brasilianischer Musik in England eine Rolle spielen dürfte. Auf BBC 6 werden jährlich etwa 19.000 verschiedene Songs gespielt. (Zum Vergleich: Manche deutsche Welle kommt teils mit nur 250 Titeln aus.) Weltmusik ist ein Schwerpunkt bei BBC 6, genauso wie Jazz. Die Moderatoren gelten als Experten und Expertinnen ihrer jeweiligen Musikbereiche. Etwa neunzig Prozent der Playlistsongs stammen von unabhängigen Labels wie eben Far Out, und man verzichtet bewusst auf Marktforschung, um den Mainstream zu vermeiden.

Kein Wunder, dass Joe Davis sein Publikum für geschmacklich vielleicht etwas offener orientiert hält. „Durch die Digitalisierung der Musik gibt es hierzulande sehr viele Leute, die total unterschiedliche Stile hören. Mein Cousin hört Snoop Dog genauso wie Tom Jobim. Das ist toll! Es gibt zudem eine Menge Crossover- und Weltmusiksendungen. Internetradios werden massiv wahrgenommen. Und deshalb versuche ich, unsere Produktionen auch für verschiedene Geschmäcker offen zu halten: Clubmusik, Jazz, Folk, Experimentelles aus Brasilien. Und natürlich junge Kulturschaffende, die innovativ klingen und die nächste Generation ansprechen. Das wirkt oft wie eine Brücke für Neugierige.“

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Aufmacher:
Dingwalls, Camden Town

Foto: Robin Webster

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