Eine Zeit des Aufbruchs: die goldene Ära des Swing im New York der 1920er- und 1930er-Jahre. Das Publikum tanzte in Clubs wie dem Savoy Ballroom ausgelassen zu ekstatischer Musik der Big Bands. Es war die Zeit der Prohibition, in der Alkohol verboten war, sich die Speakeasys als Untergrundbars gründeten, und es ein buntes Nachtentertainment gab. Viele Gesellschaftsschichten wurden zusammengewürfelt, es entstanden neue Musik, neue Tänze … So eben auch der Swing. Zeitgleich fand die sogenannte Harlem Renaissance statt – das selbstbewusste Auftreten afroamerikanischer Dichterinnen und Künstler. Kurz: Ein „Anything-goes“-Spirit lag in der Luft. Man wagte mehr, und vieles war ein Stück weit erlaubt und möglich – musikalisch, gesellschaftlich, aber auch im Hinblick auf sexuelle Selbstbestimmung.
Text: Udo Hinz
„Wir leben ja jetzt auch wieder in den Zwanzigern.“
Das Bad Mouse Orchestra spiegelt genau diese Aufbruchszeit wider – in ihren Songs und ihrer Kleidung mit Kniebundhosen und Schiebermütze auf der Bühne. Dabei ist das Orchester eigentlich ein Trio, das zu den Auftritten aus München, Freiburg und Braunschweig anreist. Die Gruppe besteht aus Sängerin und Ukulelespielerin Charlotte Pelgen, dem Ukulelespieler Stefan Pößiger sowie Peter Jung an der Gitarre. Regelmäßiger Gast ist Kontrabassist Jake Smithies aus dem britischen Sheffield.
Das Trio verortet sich im Jazz und Swing und spielt ein ganz vielseitiges Repertoire. Bekannte Jazzstandards sind zwar auch dabei, aber noch viel mehr interessieren sich die drei für unbekannte und vergessene Lieder. Deshalb sammeln sie alte Notenblätter – „sheet music“ – aus der Swingära, die sie auf Flohmärkten, Dachböden oder bei Ebay finden. Damals konnte man einzelne Lieder so kaufen – wunderschön illustriert und oft sogar mit Ukulelegriffen versehen. Immer wieder stoßen sie dabei auf Songs, die keiner mehr kennt und denen sie neues Leben einhauchen. Diese klingen bei ihnen dann nicht nach großen Big-Band-Arrangements, sondern ganz intim und so, als ob drei Freunde ihre Lieblingsmusik nach der Arbeit im Wohnzimmer spielen.
Das Bad Mouse Orchestra hat seit einiger Zeit auch Songs queerer Künstlerinnen und Künstler im Programm. Denn die Swingära war auch eine Zeit des Aufbruchs zu sexueller Selbstbestimmung. „Zum einen hat die Frauenbewegung der Zeit für Selbstbestimmung gekämpft und zum anderen wurde sehr viel über Sexualität und Geschlecht geforscht“, erklärt Charlotte Pelgen. „Das hat für mehr Verständnis, Sichtbarkeit und kurzzeitig auch mehr Freiheit für queere Menschen gesorgt. Es gab eine generelle Experimentierfreudigkeit in der Gesellschaft, die aber nicht bei allen gut ankam.“
Ihr aktuelles Album Drunk With Love widmet sich nun komplett queeren Songs – aus den USA, aber auch aus Deutschland. „Es gab viele unglaublich tolle queere Musikerinnen und Musiker die ihren Beitrag zur Geschichte des Jazz geleistet haben“, weiß Pelgen. „Die Karriere viele dieser Künstlerinnen und Künstler, vor allem weniger bekannter, wurde auf beiden Kontinenten in den 1930ern jäh zerstört, und sie gerieten komplett in Vergessenheit. Dabei ist ihre Musik so gut! Daran wollen wir erinnern.“ Das Album versammelt Songs der damaligen offen oder versteckt lebenden LGBTQ+-Community in Europa und den USA: „Anything Goes“ und „Let’s Misbehave“ von Cole Porter, „Drunk With Love“ vom Meister der Doppeldeutigkeit und des Gebrauchs schwuler Codewörter Bruz Fletcher oder „Strong, Solid & Sensational” der Dragqueen Ray Bourbon. Dabei kann man auf der CD auch Lieder starker Frauen entdecken. Im „Prove It On Me Blues“ beschreibt „Mother of the Blues“ Ma Rainey eine Frau in Anzug und Krawatte, die mit ihren Freundinnen ausgeht. Und das von der Schwulenikone Judy Garland berühmt gemachte Lied „Somewhere Over The Rainbow“ handelt von dem aufrichtigen Wunsch nach einem besseren Leben – und war möglicherweise sogar eine Inspiration für die Regenbogenflagge als Symbol der Pride-Bewegung.
Das Ensemble hat sich in den letzten Jahren stilistisch immer mehr geöffnet. Auf dem aktuellen Album stehen neben amerikanischen Songs ganz selbstverständlich auch deutschsprachige Lieder wie der vielschichtig zu deutende Zarah-Leander-Ohrwurm von Bruno Balz und Lothar Brühne „Kann denn Liebe Sünde sein“. Der zentrale queere Song auf Deutsch dürfte hier aber „Das lila Lied“ sein. „Als wir es 2017 zum ersten Mal hörten, war uns sofort klar, dass wir etwas ganz Besonderes gefunden hatten: die erste schwul-lesbische Hymne der Welt, geschrieben 1920 in Berlin.“ Im Refrain heißt es: „Wir sind nun einmal anders als die andern, die nur im Gleichschritt der Moral geliebt.“ Der Songtext fragt: „Wozu die Qual, uns die Moral der andern aufzudrängen?“ Als Ausblick auf bessere, tolerantere Zeiten heißt es am Ende dann wegweisend: „Doch bald, gebt Acht, wird über Nacht auch unsre Sonne scheinen. Dann haben wir das gleiche Recht erstritten, wir leiden nicht mehr, sondern sind gelitten!“
Die Band profitiert vom aktuellen Hype um die Ukulele. So nimmt das Trio bis zu fünf Exemplare des Instruments mit unterschiedlichen Klangfarben auf Tour. Charlotte Pelgen freut sich: „Die Beleibtheit der Ukulele ist in den letzten zehn Jahren stetig angestiegen und jetzt auf einem Allzeithoch.“ Das Bad Mouse Orchestra bietet aber auch etwas Besonderes: Arrangements des Ukulelenvirtuosen Roy Smeck (1900-1994) – in ihnen wirbelt er die Ukulele durch die Luft, pustet in sie hinein, klopf auf ihr herum. „Heutzutage ist es schwer, an diese Arrangements zu kommen“, so Pelgen. „Wir hatten das Glück, bei seinem ehemaligen Schüler Vincent Cortese Unterricht zu nehmen. Der kennt sie und hat einige an uns weitergegeben.“
Das Trio spielt zwar historische Musik, sieht aber viele Parallelen zur heutigen Zeit. Selbst die Ukulele ist keine neue Modeerscheinung. Charlotte Pelgen: „Auch damals gab es eine aktive und vielseitige Ukulelenszene mit Clubs und Treffen – in den 1920ern erfuhr das Instrument seinen ersten Boom. Wir sind jetzt im dritten oder vierten. Und auch die Musik von damals erlebt gerade ein Revival, unter anderem durch die Lindy-Hop-Tanzszene und TV-Serien wie Babylon Berlin. So passt die Musik super in den aktuellen Zeitgeist. Zudem leben wir ja jetzt auch wieder in den Zwanzigern.“
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