folker präsentiert
Vierzig Jugendliche zwischen 12 und 27 Jahren mit Geigen, Gitarren, Akkordeons, Sackpfeifen, Drehleier, Klarinetten, Flöten, Oboe, Harfen, Mandoline, Banjo, Klavier, Bodhrán und anderen Instrumenten sowie ihren Stimmen auf der Bühne, ohne Notenblätter, ohne Dirigent, spielen und singen traditionelle deutsche Stücke und Lieder. Was für ein Bild! Was für ein Klang! Nach der erfolgreichen ersten Auflage des Jugendfolkorchesters 2024, einer Initiative unter dem Dach des Verbands Profolk, folgte nun die zweite, wieder mit zwei Konzerten auf dem Rudolstadt-Festival, am Samstag auf der Marktbühne, am Sonntag auf der Heidecksburg. Dazwischen stand Ideengeberin und Hauptorganisatorin Gudrun Walther folker-Herausgeber Mike Kamp beim Talk im Schminkkasten Rede und Antwort.
Text: Michael A. Schmiedel, Christoph Schumacher; Fotos: Michael A. Schmiedel
Der Schminkkasten, die Studiobühne des Rudolstädter Theaters, bietet dem folker während des Festivals die Bühne für sein Talk-mit-Musik-Format „Mike Kamp trifft …“. Am Festivalsonntag um 11.00 Uhr erlebte eine eingeschworene Schar Folkfans eine zwar noch müde, aber dennoch jugendlich frische Gudrun Walther, bekannt vor allem durch ihre Bands Deitsch und Cara, die voller mitreißender Faszination vom Großprojekt des Jugendfolkorchesters (JFO) erzählte und davon, wie sie biografisch zu all dem kam. Zwischendurch gab sie – zum ersten Mal als Solomusikerin – ausgewählte Stücke auf der Geige sowie ein Abschiedslied zum Besten.
Walther, Jahrgang 1975, wuchs in einer musikalischen Familie mit traditioneller und klassischer Instrumentalmusik sowie den Volksliedern ihrer Mutter auf. Ihre erste Liebe galt der Folkmusik, aber sie erhielt auch eine klassische Geigenausbildung. Nach Rudolstadt kam sie zusammen mit ihrem Bruder erstmals gleich zur allerersten Nachwendefestivalausgabe 1991, und der Wunsch, Berufsfolkmusikerin zu werden, verfestigte sich in ihr. Auch deshalb ist das Auftreten mit dem JFO am selben Ort für sie wie ein Nachhausekommen. Dabei unterscheidet sie ungern zwischen Volks- und Folkmusik, bevorzugt eher die Bezeichnung „traditionelle Musik“, und erklärt: „Europa hat so viele gemeinsame Wurzeln, es gibt so viele Ähnlichkeiten in den verschiedenen Musikstilen, und gerade in einer Zeit, in der mehr Grenzen aufgebaut werden, als wir vorher hatten, ist es wichtig, diese Grenzen zumindest gedanklich irgendwann einzureißen und zu sagen: ‚Ich mache Musik, es ist egal, wo sie herkommt …‘“ Ergänzend zitiert sie ihren englischen Duokollegen, Blowzabella-Mitglied Andy Cutting: „Gute Musik braucht keinen Pass.“ Cutting erzählte ihr auch von dem von der britischen Regierung finanzierten National Youth Folk Ensemble, was in ihr die Idee eines deutschen Pendants aufkommen ließ.
Das JFO ist freilich nicht alleine ihr Projekt. Das Kernteam bilden mit ihr zusammen ihr Ehemann Jürgen Treyz, mit dem sie auch bei Deitsch und Cara sowie im Duo spielt, die Geigerin und Musikpädagogin Sabrina Palm aus Bonn, die den Dudelsackspieler Alex Froitzheim mit ins Boot brachte, und noch ein weiterer Sackpfeifer, nämlich Cara-Kollege Simon Pfisterer, dazu dessen Frau Susan Coleman aus Irland. Letztere beiden haben die Irish World Academy for Music and Dance der Universität Limerick absolviert. Es herrscht somit ein gewisser Einfluss traditioneller irischer Musik auf das JFO, was man den Arrangements durchaus ein wenig anhört. Walther ergänzt: „Die beiden sind das Spaßministerium des Jugendfolkorchesters und machen eine so großartige Arbeit, dass unser Tontechniker Steffen Wutzke, der schon viele Projekte gesehen und technisch begleitet hat, meinte, das sei die pädagogisch beste Arbeit, die er jemals gesehen habe. Die Leute sind mit Spaß bei der Sache und trotzdem hoch konzentriert. Das muss man erst mal hinkriegen!“
Auch englische Literatur hat einen Einfluss, wenn auch eher auf die angewandte Pädagogik als auf die Musik. Wie im Zauberinternat Hogwarts aus Joanne K. Rowlings Harry Potter-Reihe gibt es beim JFO sogenannte Häuser, die hier nach Notensammlungen benannt sind. Jedes Ensemblemitglied gehört einem dieser Häuser an und kann Plus- oder Minuspunkte für das Haus sammeln – Letztere zum Beispiel im Fall der Jüngeren, wenn man abends nach 22.00 Uhr nicht im eigenen Zimmer ist. Pluspunkte bekommen wiederum die Älteren, die bereits im ersten Jahr die Tradition des Gute-Nacht-Lieder-Singens etabliert haben, um den jüngeren Orchestermitgliedern das Einschlafen zu versüßen. Gudrun Walther erzählt diese Sequenz mit einem Lächeln und erklärt: „Wir sind ein Orchester ohne Noten, ohne Dirigent, mit flacher Hierarchie und sozialer Ausrichtung – alles Dinge, die für mich zum neuen ‚Deutschfolk‘ dazugehören. Es ist schön, zu sehen, wie respektvoll die älteren Teilnehmenden den jüngeren begegnen – jede Person im JFO ist Musiker*in, egal in welcher Altersgruppe, und das wissen alle. Bei uns lernen die Mitwirkenden auch das Zuhören, sowohl musikalisch als auch menschlich.“
Der Aufnahme ins JFO als solchem geht eine Bewerbung voraus. Auch wer 2024 schon dabei war, musste sich erneut bewerben. Gingen für das letzte Jahr circa 60 Teilnahmewünsche ein, waren es 2025 bereits rund doppelt so viele Bewerbungen wie Plätze. Angenommen wurden jeweils 40. Was derzeit noch fehlt, ist ein Bläsersatz aus Trompete, Posaune, Horn oder dergleichen, da es aus diesem Bereich bisher zu wenige Bewerbungen gab. Sollte der aber zum Beispiel für das kommende Jahr zustande kommen, würde das auf jeden Fall bedeuten, dass bei den anderen Instrumenten reduziert werden müsste, denn die Obergrenze von 40 Mitgliedern soll bestehen bleiben. 2025 waren 32 der 40 Teilnehmenden aus dem Vorjahr wieder dabei. Die Musikschaffenden stammen aus allen deutschen Postleitzahlbereichen.
Nicht alle, die 2024 dabei waren, haben sich wieder beworben, denn sie hatten 2025 andere Vorhaben, einige wurden aber auch wegen zu guter Konkurrenz abgelehnt, was Walther, wie sie sagt, in der Seele wehtat. Zum Auswahlverfahren ergänzte Walther im Nachhinein: „Die qualitativen Unterschiede sind definitiv vorhanden, und wir machen uns die Auswahl nicht leicht. Einzelne Bewerber*innen waren zum Zeitpunkt der Bewerbung noch nicht auf dem Stand, waren aber zum Beispiel wegen ihres Instruments attraktiv – da gab es etwa eine abgelehnte Person aus dem letzten Jahr, die sich dieses Jahr wieder beworben hat, und wir haben dann gesagt: ‚Wenn du gezielt Unterricht nimmst, um diese Funktion im JFO füllen zu können, nehmen wir dich dieses Mal.‘ Und das hat sich absolut ausgezahlt. Nicht nur ist diese Person unfassbar viel besser geworden am Instrument, sie war auch mit hundert Prozent Einsatz dabei.“ Für sogenannte Keyplayer, also Kandidaten oder Kandidatinnen, die sie unbedingt dabeihaben wollen, setzen sie das Höchstalter auch mal zwei Jahre nach oben – es wurde für die zweite Runde dann generell auf 27 Jahre angehoben. Die meisten Teilnehmenden haben eine klassische Musikausbildung absolviert, einige auch Erfahrung in Volksmusik. Das jüngste Mitglied hat beim Bundeswettbewerb von „Jugend musiziert“ den zweiten Platz gewonnen.
„Wir versuchen, es der nächsten Generation einfacher zu machen, als wir es hatten.“
Das Repertoire des JFO entstammt einer Longlist, die Walther und Treyz zusammengestellt haben. Dazu beigetragen haben viele Aktive aus der Szene wie Christoph Pelgen, Björn Kaidel, Vivien Zeller oder Matthias Branschke. In diesem Jahr konnten auch die Teilnehmenden Vorschläge einreichen. Abhängig von den zur Verfügung stehenden Instrumenten und damit verbundenen Tonartmöglichkeiten wird dann konkret ausgesucht. „Bei den Liedtexten“, erklärt Walther, „legen wir Wert auf Themen, die für Jugendliche auch heute noch relevant sind. Es darf auch eine politische Message geben.“ So kam in diesem Jahr das „Bürgerlied“ von Albert Harnisch von 1845 in der Version Florian Kirners alias Prinz Chaos II. mit dem Titel „Zusammen“ zur Aufführung – gefunden hatte Walther die dem Sinn des Ursprungsliedes entsprechend aktualisierte Fassung auf der von Wolfgang Leyn betriebenen Website www.ostfolk.de. Politik im engeren Sinn ist zwar nicht Inhalt oder Anliegen des JFO, aber das Einnehmen einer gesellschaftspolitischen Haltung gehört für Gudrun Walther gerade in der augenblicklichen Situation dazu. „Das Jugendfolkorchester versteht sich als Botschafter für eine buntere, diversere Kulturlandschaft, für mehr Akzeptanz und Respekt, Miteinander statt Gegeneinander, Horizonterweiterung statt Schubladendenken, Demokratie statt Hierarchie. Wir glauben deshalb, dass das JFO in unseren turbulenten Zeiten ein Leuchtturmprojekt in Sachen Demokratiebildung durch Kultur ist – ein Projekt, bei dem sich die jungen Menschen wirklich gesehen fühlen, in welchem sie lernen, Eigenverantwortung in einer Gruppe zu tragen und zu einem Ganzen zusammenzuwachsen, das größer ist als die Summe seiner Teile.“
Die Jugendlichen können sich auch mit eigener Musik einbringen. So erzählt Walther: „Traditionelle Musik in Bayern ist ein ganz großer Begriff. Doch lange vor dem Blech, das meist mit bayerischer Volksmusik in Verbindung gebracht wird, waren in Bayern Geigen traditionell sowie Harfen und die ganze Zupfmusik. Unsere bayerischen Orchestermitglieder haben uns dieses Jahr einen wunderbaren Jodler beigebracht – das entstand durch Zufall, aber wir standen oben an einer Bergwiese in der Nähe unseres Probenquartiers und haben gejodelt. Und das wurde dann zum Gute-Nacht-Lied am Dienstagabend. Ich finde es toll, wenn diese Lokalkulturen und Regionalstile zusammenfinden.“
2026 soll das JFO in seine dritte Runde gehen. Bewerben kann man sich zwischen dem 1. Oktober und 30. November 2025. Indes ist die Finanzierung noch nicht sicher. Der bisherige Hauptgeldgeber, die Felicitas und Werner Egerland Stiftung, kann nicht ein drittes Mal dasselbe Projekt unterstützen, da noch andere Projektanträge vorliegen, wobei selbst die stattliche Summe von rund 40.000 Euro für 2025 für ein Großprojekt dieser Art nicht verhinderte, dass das Kernteam zusätzlich weit über tausend Stunden ehrenamtlicher Arbeit einbringen musste. Zudem steigen die Kosten für Transport, Unterbringung und Verpflegung der Teilnehmenden, die sich eine Woche vor dem Rudolstadt-Festival im Allianzhaus in Bad Blankenburg treffen und bis zu sieben Stunden am Tag üben, bis alles sitzt.
Rückblickend auf schwierige Zeiten der eigenen Folkmusikkarriere schlussfolgert Gudrun Walther: „Deswegen versuchen wir, es der nächsten Generation einfacher zu machen, als wir es hatten. Denn sie ist ja da, aber wir müssen jetzt etwas bieten, sonst wandern diese Talente ab in die vorgezeichneten Karrierewege – Klassik, Jazz, Pop und so weiter. Unsere Szene schreit nach Nachwuchs. Wir sind diejenigen, die diesem Nachwuchs jetzt aufgrund unseres Wissens eine Perspektive bieten können. Ich sehe uns da in der Verantwortung, und zwar alle – als die Folkszene.“
Spenden sind daher herzlich willkommen. Wer in die Zukunft der deutschen Folkmusik investieren will, findet die Bankverbindung auf der Website des JFO.
Zu einem Interview mit zwei Teilnehmerinnen des JFO geht es hier.













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