Es war eine Nacht im März 2023. Ich war gerade dabei, eine Menge Dokumente für eine Gruppe ukrainischer Musikschaffender auszufüllen, die im Rahmen der UK/Ukraine Season of Culture nach Großbritannien reisen sollten. Da erhielt ich eine Nachricht von einem guten Freund, dem Banduraspieler Julian Kytasty aus Nordamerika. Er schickte mir den Link eines Wettbewerbs für die Teilnahme am Global Musician Workshop (GMW) von Silkroad – einem jährlichen Sommerprogramm für Musikschaffende, die mit einer Kombination aus verschiedenen Musikstilen experimentieren, darunter auch Folk, was genau das ist, was ich suche und was in der Ukraine so schwer zu finden ist. Erschöpft von der Organisation des künstlerischen Aufenthalts für Ukrainer in Kriegszeiten in Großbritannien, träumte ich von einem Musikaufenthalt für mich selbst in den USA. Und mein Traum wurde wahr.
Text: Anastasiya Voytyuk; Übersetzung: Mike Kamp
Der GMW von Silkroad wurde 2015 als Programm für Musiker und Musikerinnen mit unterschiedlichem musikalischem Hintergrund (Studierende, Lehrende, Profis und Amateure) gegründet, die verschiedene Instrumente und Genres (Klassik, Jazz, Folk usw.) spielen. Hier können sie durch die Zusammenarbeit in kleinen von prominenten Musikschaffenden aus verschiedenen Teilen der Welt geleiteten musikalischen Ensembles in die Musik eintauchen. In diesem Jahr waren die Lehrenden Mike Block (Cello, USA), Maeve Gilchrist (keltische Harfe, Schottland/USA), Edward Pérez (Kontrabass, USA), Balla Kouyaté (Balafon, Westafrika/USA), Hankus Netsky (Klavier, USA), Jamey Haddad (Schlagzeug, USA), Mei Han (Zheng, China/USA), Abeer Nehme (Gesang, Libanon), Kala Ramnath (Violine, Indien).
Der GMW 2023 war eine Zusammenarbeit zwischen der Organisation Silkroad und dem New England Conservatory in Boston und brachte 70 Musiker aus 25 Ländern zusammen, die 26 Instrumente spielen und aus 175 Bewerbungen ausgewählt wurden. Silkroad ist eine 1998 von dem Cellisten Yo-Yo Ma gegründete, global ausgerichtete Musikorganisation, die auch viele andere Musikprojekte durchführt.
Alles, was ich früher nur auf Youtube sehen konnte, habe ich jetzt live erlebt. Und wenn man mich bitten würde, die Erfahrung des GMW in einem Satz zu beschreiben, würde dieser lauten: Ein intergalaktisches Orchester in Star Wars sähe genauso aus wie wir – eine Menge lächelnder und seriöser Menschen mit seltsamen und magischen Instrumenten, die zusammen musizieren wollen und genau das auch toll machen!
Silkroad Global Musician Workshop
Foto: Hannah Rose
Um zum GMW aufgenommen zu werden, muss man sich etwa im März bewerben und hat dann zwei Möglichkeiten – entweder wird einem ein Stipendium angeboten oder man muss Studiengebühren zahlen. In jedem Fall bleiben die Kosten für den Flug, die Unterkunft und die Verpflegung zu bewältigen, und natürlich auch das Visum. Ich hatte das Glück, ein Stipendium zu erhalten und keine Studiengebühren zahlen zu müssen, aber ich musste trotzdem etwa 3.000 US-Dollar aufbringen und mir noch ein Visum besorgen, was sich in meinem Fall als sehr schwierig erwies, da die US-Botschaft in der Ukraine während des Krieges geschlossen ist und ich so in Nachbarstaaten ausweichen musste. Zudem wäre ich ohne die Unterstützung der nordamerikanischen Banduristengemeinschaft und meines guten Freundes und Mentors Julian Kytasty ich nicht in der Lage gewesen, an diesem Programm teilzunehmen. Sie haben mich bei fast allen meinen Ausgaben unterstützt, mit Ausnahme der Kursgebühren, die von Silkroad übernommen wurden.
Julian Kytasty und Anastasiya Voytyuk
Foto: Anastasiya Voytyuk
In diesem Jahr wurden Bandura und traditionelle ukrainische Lieder zum ersten Mal beim GMW präsentiert, und ich fragte mich warum. In Nordamerika gibt es so viele unter den ukrainischen Migranten und Migrantinnen, die Bandura spielen, sowie in der Ukraine viele talentierte Musikschaffende – warum sind sie nicht hier, obwohl wir eine so reiche Volkstradition zu teilen haben? Die Antwort ist relativ einfach: Banduristen und Banduristinnen, die im letzten Jahrhundert aufgrund der instabilen Lage in der Ukraine, die oft unter der Herrschaft anderer Staaten stand, in die USA ausgewandert sind, waren schon so sehr und mit aller Kraft damit beschäftigt, die mitgebrachten Traditionen überhaupt zu bewahren, das heißt allein das Format und das Repertoire zu erhalten. Ich würde gerne sagen, dass sich die Zeiten geändert haben und wir uns entspannen können, aber die letzten anderthalb Jahre haben gezeigt, dass die ukrainische Kultur, wie viele andere Kulturen in der Welt, Gefahr läuft, zu verschwinden. Und die Banduristen, die es heute in der Ukraine gibt, sind meist Vertreterinnen und Vertreter der akademischen Spielweise, während Aktive im Folkbereich zu Sowjetzeiten oft unter Verfolgung litten und ihnen das Spielen verboten wurde.
Ich bin keine Standardbanduraspielerin, sondern mit Artrock aufgewachsen, und in meiner Studienzeit interessierte ich mich sehr für die Volksmusik verschiedener ethnischer Gruppen, spielte sogar Gitarre in einer irischen Band in Lwiw. Noch mehr interessierte ich mich für Weltmusik, bei der man besser mischen und experimentieren kann. Bei der Arbeit mit ukrainischen Volksliedern in meiner Band Troye Zillia habe ich oft den Dialog mit anderen Kulturen gesucht – zum Beispiel habe ich irische und afrikanische Motive in die Arrangements eingebaut. Deshalb stellte sich der GMW für mich als echtes Paradies heaus.
Während des GMW spürte ich ständig ein sehr konzentriertes, gegenseitiges Interesse. Wir unterhielten uns viel bei den Mahlzeiten, aber am interessantesten waren die fast zufälligen nächtlichen Jamsessions, bei denen wir zwischen den Proben und Auftritten ein wenig Zeit fanden, zwanglos zusammenzuspielen. Uns war klar, dass wir uns vielleicht nie wieder sehen würden und dass dies eine einmalige Chance war, etwas Gemeinsames zu erschaffen.
So kam es zu einer Zusammenarbeit mit der iranischen Musikerin Mehrnam Rastegari, die vor mehr als einem Jahr in die USA gezogen ist und Kamantsche und Geige spielt. Beim GMW waren mehrere iranische Musiker anwesend, die Oud und Trommeln spielten und sangen. Auf eine seltsame Art und Weise fühlte ich mich der iranischen Musikgemeinschaft sehr verbunden, vor allem, was Erfahrungen des Lebens in einer Kriegssituation angeht. Eines Abends setzten Mehrnan und ich uns hin und spielten zusammen. Ich sang das ukrainische Volkslied „Oy U Poli Drevo“ („Der Baum auf dem Feld“), woraufhin sie mir sagte, dass sie alles fühlen und auf diese Weise verstehen konnte, eine Erfahrung, die man nicht mit Worten beschreiben kann.
Mehrnam Rastegari
Foto: Hannah Rose
„Der Krieg hat die Musik und die Kultur sowie die Köpfe der Musiker im Iran verändert. Die Musiker, die Kinder waren, als der Iran und der Irak im Krieg waren, machen heute andere Musik als die vorherige Generation und als die nächste sie machen wird. Ich glaube, sie verwenden viel Schlagzeug, aggressives Schlagzeug. Manche Leute halten das für eine Nebenwirkung des Krieges.“
Mehrnam Rastegari, Kamantsche- und Geigenspielerin aus Iran/USA
Gregor Black, Wan Xing und Anastasiya Voytyuk
Foto: Anastasiya Voytyuk
Gregor Black, irischer Percussionist
Wan Xing, chinesische Zhengspielerin aus Hongkong
Am letzten Tag hatte ich die Gelegenheit, das Berklee College of Music zu besuchen, welches sich ganz in der Nähe des New England Conservatory in Boston befindet. Yotam Ishay, ein Pianist aus Israel, und Upasak Mukherjee, ein Tablaspieler aus Indien, zeigten mir, wie der Studienprozess aussieht. Wie sehr würde ich mir solche Bildungseinrichtungen in der Ukraine wünschen! Der Berklee-Absolvent Yotam war der einzige Teilnehmer, mit dem ich über Luftalarm, Luftschutzbunker und ein Land im Krieg sprechen konnte. Wir haben beide diese Erfahrung gemacht. Leider ist auch seine Heimat Israel inzwischen wieder mit kriegerischen Auseinandersetzungen konfrontiert, und der Krieg in der Ukraine dauert an, von dem niemand weiß, wann er zu Ende sein wird. Wir hatten das Glück, in den letzten Tagen eine kleine Zusammenarbeit aufzunehmen, und ich hoffe, dass sich daraus eine größere Kooperation entwickeln wird.
Yotam Ishay
Foto: Hannah Rose
Yotam Ishay, Komponist und Pianist aus Israel/USA
An dem Tag, als ich aus den USA zurück in die Ukraine reiste, griffen russische Raketen meine Heimatstadt Lwiw an. Ich erinnere mich, dass als ich in Frankfurt am Main zwischenlandete und die Zeitung aufschlug mein erster Gedanke war: „Ich hoffe, meine Familie ist in Sicherheit!“ Sie war es. Am nächsten Tag zurück in Lwiw erhielt ich viele Unterstützungsnachrichten von GMW-Teilnehmenden. Meine neuen Musikfreundinnen und -freunde sagten, dass für sie die Ukraine vor dem Krieg weit weg war, seit wir uns getroffen hätten, würde es sich aber sehr nah anfühlen. Das war der Moment, an dem mir die Idee zu einem möglichen Wohltätigkeitsprojekt zusammen mit GMW-Alumni kam. Ich kommunizierte sie in unseren Chat und über vierzig Personen äußerten den Wunsch, sich an einem solchen Projekt beteiligen zu wollen.
Mike Block
Foto: Hannah Rose
Kommentar von Mike Block, Direktor des GMW
Anastasiya Voytyuk
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