Kolumne

Das Konzert endet um 16.02 Uhr an der Bushaltestelle

20. Dezember 2024

Lesezeit: 4 Minute(n)

In seiner Komödie Was ihr wollt lässt William Shakespeare den Herzog fordern: „Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist, spielt weiter! Gebt mir volles Maß!“ Und alle sind eingeladen zu diesem Festmahl. Wirklich alle? Die Komödie kann sich bereits auf dem Weg zur Festivalwiese oder Folkkneipe in eine Tragödie verwandeln.

Text: Winfried Dulisch, Foto: Ciarán Mulholland

Allein schon wegen ständiger Verspätungen bei der Deutschen Bahn und beim innerstädtischen ÖPNV startet ein Konzertbesuch oft genug mit einem peinlichen Spießrutenlauf. Peinlich – also körperlich und für die Seele schmerzhaft – für jeden Menschen im Rollstuhl. „Der Wagen ist voll. Ich kann Sie nicht mitnehmen. Der nächste Bus zum Bahnhof kommt gleich“, tröstet der Busfahrer, schließt die Tür und fährt weiter. Es regnet. Bei dem fünfzehn Minuten später angekündigten, wegen des Feierabendverkehrs mit Verspätung eintreffenden Bus ist die Rollstuhlrampe defekt. „Der nächste Bus zum Bahnhof kommt gleich.“ Wieder schließt sich die Bustür. Hoffentlich hat der Anschlusszug eine ähnlich lange Verspätung. Nein, hat er nicht, ausgerechnet heute fährt er pünktlich.

Zum Glück hattest du für deinen Weg zum Konzert in der Nachbarstadt vier Stunden Fahrzeit einkalkuliert. Die Chancen stehen gut, dass du diesmal rechtzeitig zum Konzertbeginn ankommen wirst. Deine Freunde werden sich erst in zwei Stunden auf den Weg machen und trotzdem früher am Ziel sein als du. Sie gehören nicht zu jenen ungefähr dreizehn Millionen Deutschen, die mit einer körperlichen oder mentalen Beeinträchtigung leben. Das heißt: Für jede sechste Person im Land ist bei Kulturveranstaltungen der barrierefreie Zugang eine Zukunftsmusik, deren Ouvertüre bereits an der Bushaltestelle verstummen kann.

Der Konzertveranstalter Chris Kramer gesteht: „Während meiner aktiven Zeit als Bluesmusiker hatte ich viel zu wenig darüber nachgedacht, woher und wie das Publikum zu meinen Auftritten kommt. Wenn ich heute Veranstaltungen organisiere, achte ich darauf, dass jeder Rollstuhlfahrer ungehindert die Eingänge benutzen kann. Alle Zuhörer – ob eingeschränkt bewegungsfähig oder nicht – haben Anspruch auf einen Abend voller Freude. Und nach einem Konzert ist jedes Lächeln eine emotionale Bezahlung, auf die kein Musiker verzichten sollte.“

Wenn der Plattenproduzent Jürgen Czisch in Wismar und Umgebung mal ein Konzert veranstaltet, sorgt er dafür, dass Menschen im Rollstuhl und ihre Begleitpersonen nicht getrennt voneinander sitzen müssen. Czisch: „Händchenhalten ist ein wesentlicher Teil des Konzertgenusses.“

Für die Tonmeisterin Eva Bauer-Opelland von den Bauer Studios in Ludwigsburg grenzt es an fahrlässige Körperverletzung, wenn im Rollstuhl sitzende Personen direkt vor einem verzerrt scheppernden Lautsprecher positioniert werden. Solch ein Sitzplatz vor der ersten Stuhlreihe ist kein Privileg. „Vor allem dann, wenn die Speakerbox ungedämpft auf dem Boden steht, klingt sie nicht nur für meine Tonmeisterohren unerträglich.“

Eingeschränkte Bewegungsfähigkeit ist nicht das einzige Handicap, das den Konzertbesuch erschwert. Manche Musikbegeisterte mit einer Hör- oder Sehschwäche müssen für sich – und damit auch für ihre händchenhaltende Begleitperson – oft ein überteuertes Ticket kaufen, um einen für sie geeigneten Platz zu ergattern. Spätestens dann wird kulturelle Teilhabe zu einer Frage des Haushaltseinkommens.

„Alle haben Anspruch auf einen Abend voller Freude.“

Wenn die Musikschaffenden auf der Bühne dann pausieren, kämpfen viele Behinderte mit dem nächsten Hindernis. Das WC ist im Keller und nur über eine verwinkelte Treppe erreichbar. Snacks und Getränke werden auf dem Speicher angeboten, zum Glück fährt ein Fahrstuhl nach oben. Weil die Konzertpause mal wieder zu kurz war für diesen Auf- und Ab-Slalom, beginnt jetzt der zweite Spießrutenlauf des Tages: Die Saaltür ist bereits geschlossen, das Sicherheitspersonal macht eine Ausnahme, aber: „Sie müssen sich hier in die Ecke stellen, um die übrigen Zuschauer nicht zu stören.“

Für Veranstaltende von Festivals auf der grünen Wiese oder von Musikevents im Fußballstadion sind derartige Probleme nur Peanuts. Sie müssen sich mit den teilweise von Bundesland zu Bundesland immer noch unterschiedlichen Verordnungen über den Bau und Betrieb von Versammlungsstätten beschäftigen. Darin wird zum Beispiel gefordert, dass bei einer Kapazität von bis zu 5.000 Besuchenden für mindestens ein Prozent des Publikums behindertengerechte Plätze verfügbar sein müssen, oberhalb 5.000 sind es 0,5 Prozent.

Die meisten Folkclubs und Kleinkunstbühnen werden jedoch von Laien betrieben, die sich neben der Programmplanung, Veranstaltungstechnik und Werbung nicht auch um die Einrichtung von rollstuhltauglichen Notausgängen kümmern können. Und wer sorgt vor jeder Veranstaltung für die benötigte Anzahl von Behindertenparkplätzen? Eine derartige Frage kann wegen der geringer werdenden Fördermittel das Aus für viele – oft von Ehrenamtlichen mühevoll aufgebaute – Kulturprojekte bedeuten.

Folkclub-Betreibende schielen dabei neidisch auf Einrichtungen wie die Hamburgische Staatsoper. Zwar können Menschen im Rollstuhl wegen der Sicherheitstechnik nur im Parkett sitzen, doch kosten die Tickets für diese Plätze nur elf Euro – der Preisnachlass gilt auch für Begleitpersonen, falls anhand der Behinderung Anspruch auf Begleitung besteht. Welche Folk- oder Kleinkunstbühne kann diese Vergünstigung bieten?

Solche Großzügigkeit leisten sich allenfalls noch Bundesliga-Fußballclubs. Denkste! Aus dem Blickwinkel der meisten Bundesliga-Managements beansprucht ein Rollstuhl denselben Raum wie zwei oder drei Stehplätze, was finanziellen Verlust bedeuten würde. An Hertha BSC können sich die Betreibenden von Folkclubs und anderen Selbstausbeutungsprojekten allerdings ein Beispiel nehmen. Die Berliner ließen einen Kameramann im Rollstuhl durch das Olympiastadion fahren, um die Situation aus den Augen Betroffener zu dokumentieren. Bitte nachmachen – vor allem in jenen Musikschuppen, deren Bausubstanz aus Zeiten stammt, als das Wort „Barrierefreiheit“ noch unbekannt war. Erst nach einer derartigen Inspektion seines Arbeitsplatzes darf ein Folkclub mit gutem Gewissen behaupten: „Dafür, dass immer noch viele Konzerte vorzeitig an einer Bushaltestelle enden, sind andere Entscheider verantwortlich.“

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Winfried Dulisch

Foto: Ciarán Mulholland

Winfried Dulisch, geboren 1949, arbeitete in den Siebzigern als Liedermacher mit Pop- und Jazzprojekten. 1984 wechselte er die Seiten und wurde zum „professionellen Hörer“. Vierzig Jahre später bereut der Musikjournalist, dass er meist nur den Aktiven auf der Bühne zugehört hatte. Heute schreibt er am liebsten über jene Fans, die im Dunkel der Konzertsäle ihr Herzblut für die Musik geben.

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