Misagh Joolaee entlockt seiner viersaitigen Kamantsche ein Kaleidoskop an Klängen. Die Wertschätzung für die Radīf-Tradition ist dieser persischen Musik ebenso anzuhören wie die Suche nach einer abstrakten kosmopolitischen Klangsprache, in der Bach-Referenzen wie selbstverständlich neben Flamenco-Spieltechniken stehen. Klassische emotionsgeladene Roots, mit denen es der introvertierte Musiker aus Berlin gleich zweimal hintereinander auf die Bestenliste des Preises der deutschen Schallplattenkritik geschafft hat.
Text: Eckehard Pistrick
„Der Widerspruch zwischen Nähe und dem Unbekannten ist die Ursache für die Entstehung neuer Kunstwerke.“
Am Anfang war die Einsamkeit. Das Zurückgeworfensein auf sich und sein Instrument, die viersaitige Spießgeige aus Walnussholz. Misagh Joolaee hat sich im Alter von zwölf Jahren in ihren Klang verliebt, der ebenso brüchig wie dunkel ist, auf Farsi spricht man gar von einem „nebligen Klang“. „Es gibt immer Momente der Verzweiflung, und man denkt darüber nach, wie es weitergehen soll. Und die Kamantsche hat mich besonderes in diesen schwierigen Zeiten wie eine innere Stimme, wie ein treuer Freund begleitet und beraten, nicht aufzugeben und die Zuversicht nicht zu verlieren“, sagt er.
Die Erfahrung von Isolation und Selbstzweifeln in der Zeit der Pandemie hat auch bei dem seit 2006 in Deutschland lebenden Musiker Spuren hinterlassen. Auf seinem aktuellen Album Unknown Nearness hat er sie in Klänge übersetzt, die ebenso ehrlich wie authentisch sind. Klänge, in denen immer wieder Nostalgie und Sehnsucht aufleuchten – etwa mit seiner Imitation der traditionellen Hirtenflöte Lale waa, die ihm mit einer raffinierten Flageoletttechnik gelingt –, aber auch die heilsame Kraft der Einsamkeit. Geradezu durchdrungen ist das Album von der Ehrfurcht vor den großen Meistern der persischen Musik wie dem Santurvirtuosen Parviz Meshkatian und dem Dichter und Mystiker Attar aus dem zwölften Jahrhundert. Ihm widmet Joolaee mit „Deceived Heart“ ein betörendes Stück, in dem er sich selbst introvertiert singend und summend in den Klang der Kamantsche mischt. Wie bei vielen seiner Kompositionen hat man auch bei diesem Stück den Eindruck des Um-sich-selbst-Kreisens, oft verbunden mit einer musikalischen Entwicklung hin zu einem ekstatisch-virtuosen Zustand, der Joolaee nicht zu Unrecht den Titel „Paganini der Kamantsche“ eingebracht hat. Was sich rhythmisch in diesen Stücken abspielt – mit ungeraden Siebener-, Elfer- oder Fünfzehnertakten ist so komplex, dass man dies als Hörender kaum erfassen kann. Begreifbar wird lediglich der emotionale Kern dieser Musik.
Schon auf seinem ersten Soloalbum Ferne von 2019 vertiefte sich der Solist zusammen mit dem Schlagzeugvirtuosen Sebastian Flaig musikalisch in verschiedene Seelenzustände, sichtbar an Titeln wie „Berauscht“, „Verworren“ oder „Scharfsinn“. „In dem Moment, in dem man ein neues Werk schreibt, ahnt man, was in einem vor sich geht. Es scheint auf den ersten Blick ungewohnt und unbekannt, aber es ist doch Teil von einem selbst. Es verfügt über eine große Sogkraft und Dringlichkeit. Dieser Widerspruch zwischen Nähe und dem Unbekannten ist die Ursache für die Entstehung neuer Kunstwerke.“
In diesem Spannungsfeld experimentiert Joolaee mit Spieltechniken, die so noch niemand auf der Kamantsche gewagt hat, Zupftechniken, Bogentechniken und Rhythmen, die in dieser Form in der klassischen persischen Musik nicht existieren. Für ihn ist das Verharren in der Tradition kein Selbstzweck, sondern Ansporn zu kreativer Weiterentwicklung. „Ein relativ einfaches Instrument wie die Kamantsche darf nicht als Rechtfertigung dafür gelten, sich einfach hinzusetzen, die Saiten auf- und abzustreichen und zu sagen: ,Das ist die ganze Kamantsche.‘ Ich versuche stattdessen mit meinem künstlerischen Weg zu zeigen, dass dieses Instrument viele Möglichkeiten hat, die noch nicht entdeckt sind.“ Dabei adaptiert er rhythmische Schlagtechniken, das Pizzicato von Violinsaiten oder auch das Anreißen der Saiten, wie man es von der Flamencogitarre her kennt – frei nach der Devise: „Du musst dein Instrument mindestens so beherrschen, dass du sorgenlos deine Gedanken darauf übertragen kannst.“
Wenn man Misagh Joolaee gegenübersitzt und er seine fast zierliche, dunkel marmorierte Spießgeige zwischen den Knien hält, spürt man kaum etwas von dieser minutiösen handwerklichen Arbeit, vielmehr hat man den Eindruck, dass er beim Spiel etwa der Schlagtechnik immer weiter mit seinem Instrument verschmilzt. Dabei beginnt der Dielenboden zu zittern und der Oberarm tanzt wie der wilde Flügelschlag eines Schmetterlings kurz vor dem Abflug …
Die Koordinaten der musikalischen Welt Misagh Joolaees, der auch klassisch ausgebildeter Violinist ist und die persische Langhalslaute Tar beherrscht, sind ebenso vielfältig wie faszinierend. Dabei orientiert er sich nicht etwa am gefeierten Kamantschemeister Kayhan Kalhor, sondern an Könnern auf anderen Instrumenten wie dem experimentellen Flamencospieler Vicente Amigo oder dem Bağlamavirtuosen Levent Özdemir. Immer wieder geht es dabei für den Musiker um die „richtige Alchemie des musikalischen Miteinanders“, die sich aus eher zufälligen Begegnungen heraus entwickelt. Eine besondere Anziehungskraft übt der Flamenco auf den Künstler aus. Joolaee pilgerte schon mehrfach nach Andalusien und reiste durch ganz Europa, um seinen Idolen auf der Flamencogitarre näherzukommen. Munter überträgt er Spieltechniken des Genres auf sein Instrument und gründete mit Chachipen eine eigene, persisch inspirierte Flamencoformation.
Betrachtet man den bisherigen Lebensweg des Musikers, mutet dieser wie eine Reise zu den Ursprüngen an: von der Violine zur Kamantsche, von der Klassik zur neu gedachten Tradition und von der Verortung in der Weltmusikszene – 2011 gewann er mit dem Ensemble Aavaan den niedersächsischen Regionalentscheid des Bundeswettbewerbs Creole – hin zum eigenständigen Solokünstler. Die doppelte Nominierung für den Preis der deutschen Schallplattenkritik bestätigt ihn auf seinem eingeschlagenen Weg.
Wenn Misagh Joolaee aus seinem Fenster mit den Rosenranken blickt, sieht er sein Haus, seine Heimat in der nordiranischen Provinz Māzandarān vor sich. Aus diesen Erinnerungen und Traditionen destilliert er beständig etwas Neues, bald auch im Duett mit seiner Frau, der Pianistin Schaghajegh Nosrati. Im aktuellen Projekt „Persische Miniaturen“ versuchen sich die beiden an einem Amalgam zwischen der persischen und europäischen klassischen Musik – auf der Suche nach weiteren musikalischen Horizonten.
Aktuelles Album:
Unknown Nearness (Pilgrims of Sound, 2021)
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