Frauen im Choro

Recht auf Roda und Rauchen

10. Mai 2022

Lesezeit: 6 Minute(n)

Nahezu jeder Musikstil ist mehrheitlich von Männern geprägt. Doch im Choro, dem ersten eigenen Genre in Brasilien, mischten Frauen von Anfang an mit. Heute sind sie an allen Instrumenten aktiv und forschen intensiv zum Thema.
Text: Ines Körver

Im neunzehnten Jahrhundert waren musizierende Frauen in westlichen Gesellschaften gewöhnlich nur im Salon des Adels oder reicher Bürger gelitten – und da eigentlich auch nur singend und am Klavier. In Brasilien, wo der Choro um 1870 als erstes eigenes urbanes Genre des größten lateinamerikanischen Landes entstand, war dies nicht viel anders. Die Bevölkerung der ehemaligen portugiesischen Kolonie hatte sich lange nur aus Großgrundbesitzern und Sklaven zusammengesetzt, erst ab der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts änderte sich das Gesellschaftsgefüge. Immer mehr Menschen kamen aus verschiedenen europäischen Ländern, um in der neuen Heimat ihr Glück zu machen. Aus dem Provinznest Rio de Janeiro wurde allmählich eine Großstadt. Eine Mittelschicht entstand, und mit ihr gab es auf einmal Männer, die neben ihrem Beruf über genug Freizeit verfügten, um in Hinterhöfen, Wohnzimmern, Bars und Gasthäusern ohne monetäre Interessen Musik zu machen. Mehrheitlich Menschen aus der unteren Mittelschicht verschmolzen nun munter europäische Volkstänze, afrikanische Rhythmen und klassische Elemente. Der Choro war geboren – erst als reines Instrumentalgenre, später auch gesungen.

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„Chiquinha Gonzaga hat maßgeblich dazu beigetragen, die Grenzen zwischen ernster und Unterhaltungsmusik in Brasilien durchlässiger zu machen.“

Eine Besonderheit des Choro, den die Brasilianer gerne als Vater der Samba und Großvater der Bossa Nova bezeichnen, ist, dass fast von Anfang an eine Frau mitmischte: Francisca Edwiges Neves Gonzaga (1847-1935), die als Chiquinha Gonzaga bekannt wurde. Sie gilt heute als so große Eminenz, dass im Jahr 2012 ihr Geburtstag zum nationalen Tag der brasilianischen Populärmusik erklärt wurde. Gonzaga war die Tochter eines Feldmarschalls und einer freigelassenen Sklavin. Sie hatte das Glück, dass ihr Vater José Basileu Gonzaga ihre Mutter Rosa Maria heiratete, sie selbst als Tochter anerkannte und ihr schon früh eine Musikerziehung angedeihen ließ. Mit elf Jahren komponierte Gonzaga ihr erstes Musikstück. Früh machte sie zum Entsetzen ihrer Eltern klar, dass sie Berufsmusikerin werden wollte. Daraufhin wurde sie mit dreizehn zwangsverheiratet. Mit achtzehn verließ sie ihren Mann. Sie durfte nur eines der drei gemeinsamen Kinder mitnehmen. Als alleinerziehende Mutter verdiente Gonzaga ihr Geld zunächst mit Klavierunterricht und begann, Rodas de Choro, Jamsessions von Choromusikern zu besuchen.

Gonzaga war in vielen Dingen Vorreiterin. Im Choro gilt sie nicht nur als die erste Frau, sondern auch als die erste klavierspielende Person. Sie dirigierte ab 1885 als erste Musikerin in Brasilien ein größeres Ensemble. Gonzaga komponierte als Erste ein Musikstück, in dessen Titel das Wort Choro als Genrebezeichnung zu verstehen ist („Só No Choro“, 1889), sowie den ersten Karnevalsmarsch („Ô Abre Alas“, 1899). Die erste erhaltene Aufnahme mit den für den Choro heute so typischen kontrapunktischen Gitarrenbassläufen stammt von ihr und ihrem Ensemble („Falena“, 1913 oder 1914). Diese Läufe sind also möglicherweise keine Innovation des großen Pixinguinha, wie immer wieder behauptet wird.

Mit einem Konzert für hundert Gitarren sorgte Gonzaga in den 1880ern dafür, dass die Gitarre – heute das zentrale Instrument der brasilianischen Musik – in der gesellschaftlichen Elite ihres Heimatlandes ernst genommen wurde. Zudem hat sie maßgeblich dazu beigetragen, die Grenzen zwischen ernster und Unterhaltungsmusik in Brasilien durchlässiger zu machen. Dies gelang ihr unter anderem durch die Komposition diverser Theatermusikwerke, in die sie Vulgärsprache einfließen ließ, sowie den Rückgriff auf den Tanz Maxixe, der ursprünglich mit Unterschichtmilieus assoziiert war und damals wie heute ein beliebtes Subgenre des Choro darstellt. Nicht unerwähnt bleiben darf Gonzagas politisches Engagement, etwa für die Abschaffung der Sklaverei, die Ausrufung der Republik, Urheberrechte von Komponistinnen und Komponisten sowie das Recht von Frauen, in der Öffentlichkeit zu rauchen. Einige ihrer Kompositionen, darunter „O Corta-Jaca“ (auch bekannt als „Gaúcho“) und „Atraente“, gehören immer noch zum Repertoire jeder guten Roda. Von Gonzaga selbst eingespielte Aufnahmen einiger ihrer Choros sind über den portugiesischsprachigen Wikipedia-Eintrag zu ihrer Person anhörbar.

Eine weitere wichtige Frau im Choro war Carmen Miranda (1909-1955). Die Sängerin hat zwar das Genre inhaltlich nicht erweitert, dafür aber im Ausland und insbesondere in den Vereinigten Staaten stark zu seiner Verbreitung beigetragen. Auf sie geht zurück, dass nahezu jeder und jede Musikinteressierte mit westlicher Sozialisation den Choro „Tico-Tico No Fubá“ von Zequinha de Abreu kennt – wenn nicht mit Namen, dann doch gewiss die Melodie. Miranda sah sich schon früh als musikalische Botschafterin ihres Heimatlandes, auch wenn sie in Portugal geboren wurde. Ursprünglich als Hutmacherin tätig, wurde sie in einer Talentshow entdeckt, sang im Radio und spielte in diversen brasilianischen Spielfilmen mit. Ende der 1930er-Jahre wurde der amerikanische Produzent und Manager Lee Shubert auf sie aufmerksam. Er bot ihr die Hauptrolle in einer Broadway-Produktion an, die 1940 starten sollte. Getúlio Vargas, der damalige Staatspräsident Brasiliens, drängte Miranda, die Offerte anzunehmen und zudem ihre Begleitcombo Bando da Lua mitzunehmen, was sie auch tat.

Die US-Amerikaner lernten durch Miranda und ihr Ensemble Samba und Choro kennen, freilich ohne die beiden Genres auseinanderhalten zu können – für das Publikum in den Vereinigten Staaten war damals alles südlich ihrer Landesgrenze irgendwie nur „Latin“. So wurden in amerikanischen Filmen der Vierziger- und Fünfzigerjahre munter Rhythmen, Instrumente, Kostüme und Gebräuche aus Kuba, Mexiko, Brasilien und anderen Ländern vermischt. Es ging ausschließlich darum, etwas Exotik zu kreieren, Details interessierten nicht. Miranda tourte in Drehpausen mit ihrer Band durch die USA. Ihre Begleitmusiker tauschten sich lebhaft mit amerikanischen Jazzmusikern aus, was wiederum den Jazz bereicherte. 1955 starb Miranda nach einem Herzinfarkt.

Um den Choro wurde es in den darauffolgenden Jahren auch in Brasilien still. Öffentlich spielte er nach dem Siegeszug der Bossa Nova Ende der Fünfziger nur eine untergeordnete Rolle, wenngleich Größen wie Jacob do Bandolim und Waldir Azevedo in dieser Zeit viele Meisterwerke des Genres schrieben. Erst mit dem Chororevival der Siebziger taten sich wieder Frauen hervor. Ab dieser Zeit fingen sie erkennbar an, auch andere Instrumente zu besetzen als das Klavier. Die wohl wichtigste Frau der neueren Chorogeschichte ist die 1961 geborene Luciana Rabello. Sie lernte zunächst Gitarre, später überredete sie ihr ebenfalls Gitarre spielender Bruder Raphael dazu, auf das Cavaquinho umzusteigen, weil in dem von ihnen beiden gegründeten Ensemble Os Carioquinhas die Position an diesem Instrument unbesetzt war. Der „Vater der Ukulele“ ist im Choro von Anfang an ein tragendes Element, fungiert das Cavaquinho mit seiner Rhythmik doch als Bindeglied zwischen Gitarren und Percussion. Eines der Standardstücke in Rodas ist heute Luciana Rabellos „Velhos Chorões“.

Luciana Rabello

Genauso wichtig wie ihre Leistung als Musikerin ist aber Rabellos Engagement für die Verbreitung des Genres. Zusammen mit dem Gitarristen Maurício Carrilho gründete sie 1999 das Chorolabel Acari Records, das unter anderem 2002 das Album Mulheres Do Choro mit Werken von Chorokomponistinnen herausbrachte. Im Jahre 2000 war Rabello maßgeblich an der Gründung der Escola Portátil de Música (EPM) in Rio beteiligt. Auch heute noch ist sie ihre Präsidentin. In dieser „mobilen Musikschule“ wird vor allem Choro unterrichtet. Eine der EPM-Lehrerinnen, die Flötistin Naomi Kumamoto, hat wesentlich dazu beigetragen, dass das Genre auch in Japan begeistert gespielt wird.

Barbara Piperno mit Marco Ruviaro im Duo Choro de Rua. Fotos: Mali Erotico

„Choro war nie eine reine Männerdomäne.“

In Brasilien gibt es inzwischen sogar einige rein oder vorwiegend weibliche Choroensembles. Dazu gehören Choro das 3, Choronas und Abre a Roda, eine Initiative, die sich dafür einsetzt, dass Frauen in Rodas de Choro häufiger vertreten sind. Auch Nichtbrasilianerinnen wie Marilynn Mair aus den USA (Mandoline), die Italienerin Barbara Piperno (Flöte), Anat Cohen aus Israel (Klarinette, Saxofon) spielen Choro auf einem extrem hohen Niveau. Darüber hinaus haben in den vergangenen Jahrzehnten auffällig viele Frauen Forschungsarbeiten über das Genre vorgelegt, darunter Tamara Elena Livingston-Isenhour, die 2005 zusammen mit Thomas George Caracas Garcia mit Choro – A Social History of a Brazilian Popular Music das nach wie vor umfassendste Buch zum Thema verfasst hat. Fest steht: Choro war nie eine reine Männerdomäne, das Genre war und ist lediglich männerdominiert – heute jedoch weniger als jemals zuvor.

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