Musikalische Naturgewalt
Die finnische Kantelevirtuosin Maija Kauhanen und der schwedische Drehleierinnovator Johannes Geworkian Hellman lernten sich 2014 als Musikstudierende kennen. Nachdem sie das erste Mal miteinander improvisiert hatten, stellte sich das gegenseitige Gefühl ein, dass etwas Spezielles geschehen war. Über die Jahre trafen sie sich immer wieder und schufen mit ihren „archaischen“ Instrumenten gemeinsame Kompositionen, die sie nun auf ihrem Debüt, dem Konzeptalbum Migrating, als lyrische Tondichtungen in einem eigenen Klangkosmos veröffentlichen. Dass Hellman derzeit einer der vielseitigsten Drehleierspieler ist und für seine außergewöhnlich schönen Melodien gerühmt wird, wissen wir spätestens, seit er als die eine Hälfte des Duos Symbio weltweit Furore macht. Beeinflusst von nordischer Folk-, Pop- und Filmmusik erschaffen er und die als One-Woman-Orchestra bekannte Kauhanen mit ihrer 23-saitigen Saarijärvi-Kantele impressionistische, assoziative Klanggemälde. „Das Thema des Albums ist inspiriert von Zugvögeln, die im Laufe ihres Lebens regelmäßig von einem Ort zum anderen reisen“, erzählt Kauhanen über den Longplayer. „Wenn wir spielen, sind wir ebenfalls auf Reisen“, fährt Hellman fort, „wir versuchen, unsere Sinne zu kombinieren, um eine gemeinsame Richtung zu finden. Die Musik gibt uns die Möglichkeit, an andere Orte zu reisen, sowohl an imaginäre als auch an solche aus unserer Erinnerung“.
Bei dieser Reise treffen lyrische Tonkaskaden und pulsierende Rhythmen der Radleier auf schwere Basslinien und hypnotische Kantelemuster, die das Album mit „Birds Of Passage“ eröffnen. Darüber imitiert die Drehleier zunächst Vogelschreie, die sich dann zu einer bezaubernden Melodiestimme entwickeln. Das komplette Album funkelt nur so von überraschenden Klängen, mesmerisierenden Ostinatos, unerwarteten Rhythmusänderungen, mäandernden Melodien und unter die Haut gehenden Vokaleinsätzen (lautmalerischer Gesang ohne Worte) von beiden. Man verliert sich in diesen Klangwelten, erlebt die Musik als tonales Kopfkino, und dabei spielt es keine Rolle, welche Klänge von der Kantele und welche von der Leier erzeugt werden. Nach kürzester Zeit nimmt man sie nicht mehr als zwei Instrumente wahr, sondern als Einheit, als eine musikalische Naturgewalt. Und man möchte, dass die Musik immer weitergeht.
Ulrich Joosten
Foto: Anna Drvnik






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