Njamy Sitson ist Komponist und Multiinstrumentalist, spezialisiert auf die afrikanische Harfe sowie auf Trommeln. Sein Lieblingsinstrument ist die Stimme. Er singt in der Sprache Medumba (auf Deutsch „ich meine“) und ist Erzähler, Schamane und Botschafter der kamerunischen Bamilekekultur. Seine Musik versteht er als heilend. Seit zweiundzwanzig Jahren bespielt Sitson deutsche Bühnen. Vor zehn Jahren wurde er Teil des Projekts „Heimatlieder aus Deutschland“.
Interview: Kat Pfeiffer
Mit dem Konzert mit der Komischen Oper Berlin im Berliner Schillertheater kamen im November 2023 die „Heimatlieder aus Deutschland“ leider zu ihrem Ende …
Nur die eine Show ist zu Ende. Das große Projekt geht weiter. Mitte Juni setzt Jochen Kühling es mit der Oper Graz als „Heimatlieder aus der Steiermark“ fort. Einheimische Künstler von dort sollen daran teilnehmen. Das Ganze ist seine Idee und die von Mark Terkessides. Weitergehen werden auch Projekte wie „Minimal Utopia“, bei dem ich nicht mehr dabei bin, und „Zugvogelmusik“. „UbuZuSchu – Unsere bunte Zugvogelmusik-Schule“ ist ein Musiktheater mit dem wir mit dem Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer in den Schulen arbeiten. Im Mittelpunkt stehen dabei die Vögel, die saisonal vom Wattenmeer aus nach Afrika und zurück fliegen. Während dieser Wanderung müssen sie sich Nahrung besorgen oder Pause machen. Sie erleben viel. Vielleicht kehren sie auch zurück. Das ist genauso, wie wir über das Meer auf der Suche nach einem neuen Zuhause hierhergekommen sind. Vögel haben verschiedene Stimmen und sie singen so, wie sie sind. Wir auch. Wir haben eine schöne Veranstaltung darüber mit der tollen Berliner Schauspielerin Veronika Nowag-Jones gemacht, die über achtzig Jahre alt ist. Ich war der schwarze und sie der weiße Zugvogel.
Wie ging es für dich los mit den „Heimatliedern“?
2014 sollte eine Aufführung von Heimatliedern im Augsburger Theater stattfinden. Es gab ein Casting für ausländische Musiker, die vor Ort ihre Musik pflegten. Jochen hat mich in meinem damaligen Studio in Augsburg-Hochzoll besucht, und als er meine Musik gehört und die Instrumente gesehen hat, wollte er mich sofort dabeihaben. Meine erste Beteiligung war beim Konzert im Augsburger Staatstheater. Ich wusste zwar, dass es viele Künstler verschiedener Herkunft in Deutschland gibt, aber von der kulturellen Vielfalt im Projekt war ich sehr beeindruckt! Und verblüfft, dass ich mit meiner afrikanischen Harfe, meinen Trommeln und meinem kleinen Sohn auch dabei sein durfte. Das Schöne an dieser Arbeit war, dass wir Musiker nicht nur unsere Musik gespielt haben, sondern uns auf Augenhöhe begegnet sind.
Mit welchen Gedanken und Hoffnungen bist du eingestiegen, und was ist daraus geworden?
Am Anfang ging es mir nur um die Freude, die Musik meiner Heimat in großen Häusern präsentieren zu dürfen. Wir spielten auf großen Bühnen in ganz Deutschland – in München, Dresden, Köln, Berlin, sogar am Schloss Bellevue! Wir haben Konzerte in Nationaltheatern in Oldenburg und Saarbrücken gegeben. Und überall, wo wir spielten, hatten wir großen Erfolg. Jedes Mal habe ich mich auf die Konzerte gefreut. Nicht, dass ich spielen, sondern, dass ich die anderen Musiker hören werde. Als Solist bekam ich die Gelegenheit, mit Gnawa- und kubanischen Musikern aufzutreten. Ich konnte dabei meine eigene Kultur wiederentdecken, denn die Musik aus dem Norden Kameruns, die in der Wüstenmusik der Gnawa erklingt, oder die afrikanischen Elemente der kubanischen Rhythmen sind sich sehr ähnlich. Für mich war das ein Weg zu Verwurzelung durch Klänge, die neu für mich waren. Durch die Heimatlieder sind mir meine eigenen Kulturschätze bewusster geworden. Die Forschung über meine Heimatmusik und meine eigenen Ursprünge hat sich sehr nach vorne bewegt. Als Schamane konnte ich mein Wissen über die heilenden Kräfte der Musik vertiefen. Wir hatten Fado aus Portugal, Musik aus Island, Korea, Vietnam. Ich war fasziniert von den serbischen Dissonanzen, die nicht nur sphärisch klingen, sondern auch viele Legatos und schöne melodische Linien haben. Auch von den vielen ungeraden Rhythmen, die leicht klingen, aber wenn man versucht, sie nachzumachen, sind sie überhaupt nicht einfach. Musikalisch habe ich sehr viel mitgenommen. Jetzt kann ich viel leichter in verschiedene Projekte einspringen.
In der Düsseldorfer Tonhalle hast Du mit Japanern kamerunisch getrommelt, gesungen und Flöte gespielt. Das hörte sich überraschend gut an! Wie passen diese Kulturen musikalisch zueinander?
Meine Instrumente sind akustisch, und die japanische Musik ist es auch. Es gibt harmonische Ähnlichkeiten und viele Rhythmen – wie bei uns. Das ist modale, pentatonische Musik. So war es für mich einfach, mit meinen Eintonflöten polyfone Klänge zu meistern.
Njamy Sitson greift die kleine längliche Blumenvase, die auf dem Kaffeetisch steht, nimmt die weiße Margerite heraus und legt sie auf den Tisch. Er beginnt rhythmisch in das Fläschchen zu blasen und singt gleichzeitig dazu. Dann lacht er strahlend.
Die Eintonflöte Ndewhoo, stammt von den Pygmäen. Ursprünglich handelte es sich um Bambusflöten in verschiedenen Stimmungen. Den Ton erzeugt man durch die Kopfstimme und polyrhythmisches Spielen. Man bläst nicht einfach hinein, sondern dialogisiert mit dem Instrument. Die Instrumente sind eine Verbindung unseres Inneren mit der Natur, und es kommt selten vor, dass man Musiker, die auf traditionellen Instrumenten spielen, trifft. Ich finde, man sollte diese außergewöhnlichen Musiker an die Hochschulen bringen, Lehrstühle für Weltmusik schaffen und sie unterrichten lassen. Der großartige vietnamesische Multiinstrumentalist und ausgezeichnete Musikwissenschaftler Đào Xuân Phương verkauft Blumen, um zu überleben! Man sollte aus solchen Menschen, die hier im Land leben, das Beste raushohlen, solange man diese große Chance dazu hat. In Deutschland und Europa betrachtet man diese Art von Musik manchmal als minderwertig oder als „fremde Musik“. Die Heimatlieder-Konzerte haben uns jedoch unsere Würde und unser Selbstvertrauen richtig spüren lassen. Wir bekamen erkennbare Wertschätzung.
Welche schönen Momente aus der Arbeit mit dem „Heimatlieder“-Projekt bleiben dir in Erinnerung?
Es gab nur schöne Momente! Besonders daran fand ich, dass man Musik aus der ganzen Welt dort erleben konnte. Es war wie ein Weltklangbad! Die Musik aus Vietnam zum Beispiel war für mich etwas ganz Besonderes. Da steht ein ganzes Theater auf der Bühne, in dem Tanz und Dramaturgie eine ganz neue Welt erschaffen. Sie erzählen eine vietnamesische Liebesgeschichte: Die Künstler kommen mit einem Schirm auf die Bühne, schauen hinter dem Schirm hervor, schleichen leise, schauen sich vorsichtig um, und dazu spielt die Musik. Man muss es einfach erleben. Es ist abgefahren! Jedes Volk hat seinen eigenen kulturellen Ausdruck. Das ganze Programm ist toll und sollte weitergehen, weil es ein gutes Beispiel für Völkerverständigung ist. So hat es auf uns Musiker gewirkt und auch auf das Publikum. Wir haben alle gemerkt, dass Musik keine Grenzen kennt. Sie ist die Sprache des Herzens. Vielleicht sind einige ins Konzert gekommen, um deutsche Lieder zu hören. Stattdessen haben sie in zwei Stunden und an einem Ort die Welt gesehen!
War es für dich einfach, sich in der europäischen Musik wiederzufinden?
Die europäische Musik ist sehr schön. Man muss nur gut zuhören, und schon ist man drin. Kamerun ist eine ehemalige deutsche Kolonie. Das heißt, die wohltemperierte Musik kennen wir in Kamerun auch. Dur- oder Mollklänge, Jazz – das kennen wir und sind offen dafür. In meiner eigenen Band mache ich Bearbeitungen von Erik Satie oder von Bach-Kantaten. Im Chor habe ich sie ja bereits gesungen! Beethoven sagte, dass die Musik zu Entfaltung der Persönlichkeit des Menschen beitragen soll. Das hat mich fasziniert. Früher war ich sehr auf akustische Musik fixiert. Seit ich in Europa lebe, habe ich mich auch mit elektronischer Musik beschäftigt. Ich arbeite zum Beispiel mit dem Komponisten Stefan Poetzsch aus Erlangen, der elektronische Musik auf der Geige macht, mit dem Komponisten Peter Michael Hamel aus dem Chiemgau, der mit dem Klavierklang experimentiert, und mit dem Oboisten und Dirigenten Hansjörg Schellenberger. Ich höre Musik überall. Sogar die Stille ist Musik für mich.
Njamy, wo ist deine Heimat?
Meine Heimat ist, wenn ich musiziere und wo ich die Menschen auf Augenhöhe treffe. Das hat nichts mit einem physischen Ort zu tun.
Videos:
Die Heimatlieder Allstars beim Auftritt der „Heimatlieder aus Deutschland“ im Rahmen des Festivals „Klang der imaginären Heimat“ im Schauspiel Köln, Depot I, Tag der deutschen Einheit 2014 – mit Njamy Sitson, David Beck, Youssef Belbachir, Ricardo Moreno, Rafael Martinez, Pedro Abreu: www.youtube.com/watch?v=JvIiWle_giI
„Sangolo“, Njamy Sitson beim Eröffnungskonzert der 9. Zugvogeltage im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer, 27.8.2017, Oldenburgisches Staatstheater: www.youtube.com/watch?v=YTRtVr94D-U
Njamy Sitson zu Gast bei Roots & Sprouts in Leipzig, 2019: www.youtube.com/watch?v=zxPU8fc6B10
„Der Musiker Njamy Sitson aus Kamerun – ein Wanderer zwischen den Welten“, Beitrag auf Channel Welcome von 2015: www.youtube.com/watch?v=mYpMtownGac
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