Neuigkeiten und der Jahresrückblick 2023 mischen sich diesmal in den Latin Music News. Man muss dabei feststellen, dass der Input mit nicht nur neuen, sondern auch bemerkenswerten Veröffentlichungen lateinamerikanischer Musik auffallend weniger geworden ist. Kaschiert wird das etwas durch die Zunahme von Wiederveröffentlichungen. Laut einer Studie der IFPI, der Internationalen Föderation der Phonoindustrie, gingen die Verkäufe lateinamerikanischer Musik in Europa schon 2022 um 10 % zurück. Die COVID-19-Pandemie hatte lange verhindert, dass lateinamerikanische Stars in Europa auftraten. Das ist bis heute zu spüren. Für viele Bands lohnt es sich finanziell gar nicht mehr, den Bereich ihres nationalen Publikums zu verlassen. Zudem sind inzwischen Hip-Hop, Reggaeton und Trap beliebter als Salsa oder Merengue geworden, und die letzteren Stile zählen schon zur kommerzielleren Latin Music. Zudem ist im Bereich des Streamings für lateinamerikanische Musik die Konkurrenz größer geworden. Auch im Radio gilt zunehmend: Was man nicht zu hören bekommt, kennt man nicht, und was man nicht kennt, hört man nicht.
Es fällt auf, dass in Deutschland promotete Alben lateinamerikanischer Musik sich zunehmend durch einen stilistischen Mix hervortun. Das gilt insbesondere für Latin Jazz. Man merkt, dass gerade kubanisch-stämmige Musiker*innen eben nicht nur Latin oder Jazz hören, sondern sich für alles Mögliche interessieren. Vielleicht braucht es genau dieser Öffnungen, um auch außerhalb nationaler Grenzen wahrgenommen zu werden. Eine Musikerin wie die folgende will nicht mehr nur als Kubanerin oder virtuose Geigerin oder Latin Jazzerin wahrgenommen werden, sondern schlicht als Musikerin, die einfach von möglichst vielen gehört und nicht auf eine stilistische oder regionale Ecke beschränkt werden will.
Yilian Cañizares
Habana-Bahia
Planeta Y/ Absilone (via Believe)
Kuba, Brasilien/ Latin Crossover
Die kubanische Geigerin und Sängerin Yilian Cañizares lässt sich deshalb schwer in irgendwelche Kategorien pressen: Für Latin Pop zu anspruchsvoll, für Jazz zu poppig, als Geigerin zu sehr Sängerin, als Sängerin eher am musikalischen Arrangement interessiert, und als Kubanerin genauso stark mit afrobrasilianischer Musik beschäftigt. Sie macht dies mit einer sphärischen, dennoch rhythmischen und komplexen Musik, die auch keine Studioeffekte oder Breakbeats auslässt. Die Grenzen zwischen Tradition, Pop und Jazz verschwimmen hier und lassen dadurch tendenziell eine erweiterte Hörerschaft zu. Warum also Kubanerinnen immer nur in Weltmusiksendungen spielen? Es ist eine zeitgemäße Produktion, von sanften Keyboardsounds und ebensolchem Gesang bestimmt, zweifelsohne ein eigener Weg, der allerdings manchmal stärker nach Filmmusik wirkt denn nach kubanischer Musik.
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HAROLD LOPÈZ-NUSSA
Timba Á La Americana
Blue Note/Universal
Kuba/ Latin Jazz
Und noch ein kubanischer Eklektizist. Der Pianist aus der dortigen, nicht enden wollenden Talentschmiede präsentiert in seinen Stücken ständig rhythmische, klangliche und stilistische Variationen des Ausgangsmotivs. Als Gegenpol zur unbändigen Energie hört man die chromatische Mundharmonika von Grégoire Maret, der zeigt, wie sehr man damit jazzen kann. Immer wieder leiten traditionelle kubanische Rhythmen die Stücke ein. Dann folgt ein munterer Stilmix von Jazz, Son, Blues und vertrackten Synthesizer-Improvisationen. Das macht den kubanischen Jazzern keiner so schnell nach. So gelingt es Kubanern eben schon seit einiger Zeit, sich z. B. auf Festivals als zeitgemäß und tonangebend zu präsentieren.
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FABIANO DO NASCIMENTO
Mundo Solo
Far Out Recordings
Brasilien, USA/ Ambient, Gitarrenmusik
Brasilianische Akustik-Gitarristen sind allgemein für ihre Virtuosität und Verwurzelung in der nationalen Musik bekannt. Fabiano do Nascimento geht da andere Wege. Mit verschiedenen Gitarren, darunter welche mit sechs, sieben und zehn Saiten, Oktavgitarre und elektrischer Baritongitarre, sowie einer Vielzahl von Pedalen und Synthesizern entwickelt er Klanglandschaften, die einerseits ambienthaft wirken, andererseits mit perkussiven Einlagen und der Spielweise ihre Herkunft nicht verleugnen. Brasilianische Gitarrenkunst einmal anders als in der Tradition von Baden Powell und Nachfolgern.
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Wer aber genau das mag, dem sei…
AGUSTIN PEREYRA LUCENA
Augustin Pereyra Lucena
Far Out Recordings
Brasilien, Argentinien/ Gitarrenmusik
…ans Herz gelegt. Der aus Argentinien stammende Gitarrist suchte in den Siebzigern die brasilianische Szene um Antônio Carlos Jobim, Baden Powell sowie Vinicius De Moraes und wurde dort auch wohlwollend aufgenommen. Powell verehrte er besonders und spielte hier etliche seiner Kompositionen. Für Sängerin Helena Uriburu war es deren erste Studioaufnahme überhaupt.
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Soema Montenegro
Circulo Radiante
Mais Um
Argentinien/ Anden-Folk
Die argentinische Andenfolksängerin hat ihren traditionellen Sound hier dezent erweitert. Neben Klängen der Andenfolklore und Bläsersätzen sowie Chören sind es elektronische Klangfetzen, die hier geheimnisvoll wie Winde durch die Lieder streichen. Die bei uns wohl etwas als verstaubt betrachtete Andenfolklore bekommt durch eine neue Generation einen anderen Anstrich und entwickelt sich dabei zu pan-lateinamerikanischer Musik. Montenegro erinnert bezüglich stimmlicher Ausdrucks- und Innovationskraft etwas an die Mexikanerin Lila Downs, zumal sie auch mexikanische Musik singt wie den inbrünstigen Walzer „La Huesera“.
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MITO Y COMADRE
Guajirando
ZZK Records
Venezuela/ Latin Electronica
ZZK ist in Lateinamerika das Pionier-Label für die Verbindung von traditioneller Musik der spanischsprachigen Länder mit elektronischer Musik bis hin zu Techno. Der neueste Act des Labels Mito Y Comadre ist ein venezolanisches Duo, das traditionelle Instrumente, Rhythmen und Legenden mit modernen Dancebeats, Soundeffekten und Aussagen zur Migration verbindet. Sängerin Shana Comadres melodischer Rap kommt allerdings selten über den Wechsel zwischen zwei Akkorden hinaus, was zu einer gewissen Eintönigkeit beiträgt. Auch die traditionellen Klänge halten nicht mit den programmierten Beats von Guillermo Lares aka Mito mit, wenngleich die Rhythmik aus der Folklore genommen wurde. So geraten die im Info beschworenen umfangreichen traditionellen Klänge manchmal nur zur Zutat. Erst im letzten Titel, der eine Art Psychedelic Jazz ist, gelingt es dem Duo, alle anvisierten Stilelemente als Klangtupfer gleichberechtigt zu verweben.
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Mariachi los Camperos
Sones de Mariachi
Smithsonian Folkways/ MC Galileo
USA, Mexiko/ Mariachi
Son gibt es nicht nur auf Kuba, vielmehr ist der Son die Essenz der mexikanischen Mariachi-Musik. Mariachi Los Camperos aus Los Angeles konzentrieren sich darauf: Ein getrieben wirkendes Tempo, inbrünstiger, komplexer Chorgesang, swingende Geigen, vibrierende Trompeten und die Juchzer fehlen auch nicht. Intensivpaket!
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CREATION REBEL
Hostile Environment
On-U Sound/Rough Trade
Großbritannien/ Dub
In den frühen 1980er Jahren machte ein englisches Dub- und Reggae-Label mit damals wahnsinnigen Sounds auf sich aufmerksam: On-U Sound. Dahinter stand der Produzent Adrian Sherwood, ein wahrer Magier am Mischpult, der Sounds und Effekte hervorzauberte, dass einem schwindelig wurde. Seine Hausband war damals Creation Rebel, die den Dub-Poeten Prince Far I begleiteten. Jetzt taucht Creation Rebel 40 Jahre nach ihrem letzten Album unvermutet wieder mit einer neuen Produktion auf. Teilweise orientiert am Sounds von damals, insbesondere am Anfang der Stücke, doch seitdem hat sich an technischen Möglichkeiten und musikalischen Ideen viel getan, was das Trio ebenso nutzt. Zwischen einschmeichelnden Melodien und spacigem Psychedelic-Dub ist einiges drin, was das Dub-Herz begehrt. Neben einigen Gastsängern erklingt auch ab und zu die Stimme des verstorbenen Prince Far I. Irgendwie setzt Adrian Sherwood nach der Wiederentdeckung von Horace Andy nun erneut auf die Methode „alter Wein in neuen Schläuchen“. Zwar nicht übertrieben modernisiert, aber uns soll es recht sein.
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Dreaming From An Iron Gate
Baco Records/Broken Silence
USA, Frankreich/ Dub, Reggae
Auch alter Wein in neuen Schläuchen ist dieses Album, allerdings im Ergebnis eindrucksvoller. Es handelt sich hier um das 20 Jahre alte Groundation-Album „Hebron Gate“, das Frontman Harrison Stafford dem französischen Produzenten und Dub-Künstler Brain Damage in die Hand gab, um zum Jubiläum etwas Neues daraus zu zaubern. Mit diesem Werk gelang der Band einst der erste internationale Erfolg und hier waren zudem Altstars wie die Congos und Don Carlos beteiligt. Während sich „Hebron Gate“ heute wie ein nur leicht überdurchschnittliches Reggaealbum anhört, hat Brain Damage eine faszinierende Produktion daraus gezaubert. Er hat es keinesfalls zur Unkenntlichkeit geremixt, wie das oft in der Clubmusic geschieht, sondern Elemente isoliert und daraus neue Teile eingebaut. So erstellte er beim Opener „Between Earth And Zion“ aus einem verhallten Riddim-Loop eine Art Intro mit einem Posaunensolo, bevor das Stück erst so richtig hereinkommt. Kurz darauf entsteht ein Mittelteil auf der gleichen Basis mit einem Snaredrum-Solo bis man sich dem Original endlich annähert. Dieses Original (welches ursprünglich „Jah Jah Know“ heißt) geht nach einem hier auch verwendeten „Warmspiel“-Intro dagegen sofort los. Im neuen Mix kommen Streckungen mit Halleffekten dazu, weshalb das Stück einen völlig anderen dramaturgischen Aufbau bekommt, der gut als Opener passt. Groundation überzeugt mit diesem Album wie diesem Konzept erneut vom Fleck weg, so dass man es zu den absoluten Highlights des Jahres 2023 zählen kann.
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At Home With The Gils/ Travelling With The Gils
Reality-TV-Shows (amazon prime)
Sprachen: Portugiesisch, UT: Englisch
Auch eine Art, ein musikalisches Erbe zu hinterlassen, unternahm dieses Jahr Brasiliens Altstar Gilberto Gil. Er drehte gleich zwei Reality-TV-Shows, bei denen er seiner Groß-Familie seine Songs und Hintergründe dazu in lockerem Geplauder erklärt und diese mit ihr zusammen musiziert. Seltene Einblicke in das Leben des brasilianischen Alt-Stars und seiner Geschichte sowie die letzte Tournee, die ihn und seine Familie auch nach Deutschland führte. Garantiert anders als die üblichen Reality-TV-Shows, die oft nur der Pflege des Celebrity-Images dienen. Die Serien sind zwar auf Portugiesisch, aber auch dieser Sprache Unkundige kommen durch englische Untertitel mit. Insgesamt sehr persönlich und mit einigen ungewöhnlichen Orten.
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Damit sind damit sind wir schon beim Jahresrückblick 2023
Um hier anzuknüpfen, sei zunächst einmal von den außerbrasilianischen Alben, die meistens den Schwerpunkt bildeten, ebenfalls an ein Album aus dem Bereich Reggae von 2023 erinnert:
SAMUEL BLASER, Routes (Enya/ Yellowbird) Schweiz/ Ska, Jazz
Die Veröffentlichung des Schweizer Posaunisten Samuel Blaser ist eine Hommage an den legendären Ska-Posaunisten Don Drummond, welches dessen Musik durch Verbindungen mit Jazz, Lovers-Rock und Dub auf eine moderne Ebene hebt.
Alfredo Rodriguez, Coral Way (Mack Avenue Records/in-akustik) Kuba, USA/ Latin Fusion
Der kubanische Pianist verbindet ungemein vieles mit Jazz: Latin-Pop, Funk, Timba, Salsa, Bachata, Tango, Reggaeton, Bolero, aber auch seine Klassik-Ausbildung schimmert durch.
https://open.spotify.com/intl-de/album/6nY4zFR105qr33Ii7ODw3s
Domenico Lancellotti, Sramba (Mais Um) Brasilien/ Modern Samba
Futuristischer Samba zwischen Tropicalismo, Bossa Nova und Krautrock-Elektronik. Dabei aber auch grandiose melancholische Balladen.
CARLINHOS BROWN, Pop Xirê (Candyall Music) Brasilien/ MPB, Sambareggae
Brasiliens Superstar Carlinhos Browns Befreiungsschlag von der Pandemie mit einem Album für die ultimative Sambareggae-Party. Dance-Knaller am Fließband.
PEDRO ROSA, Midnight Alvorada (Ajabu! Records), MPB/ Brasilien, Spanien
Hochtalentierter brasilianischer Komponist, Sänger und Gitarrist, leichtfüßig, sanft und rhythmisch raffiniert mit immer neuen Ideen.
IRMA FERREIRA, Em Cantos De Òrìsà (Ajabu! Records/ Broken Silence), Brasilien/ Candomblé
Religiöse Gesänge des brasilianischen Candomblé, nur mit Stimme und leisem Dröhnen. Ergreifend.
https://open.spotify.com/intl-de/artist/53PehhecEOXQ6tu14vMiXE
ABSCHIEDE
Die Einschläge werden dichter. Deshalb hat es sich inzwischen von alleine ergeben, hier eine Kategorie einzuführen, die auf jüngst verstorbene Stars der Latin Music Szene eingeht, sofern das hier bekannt wurde, und sie kurz zu würdigen.
CARLOS LYRA
* 11. Mai 1933 in Botafogo, Rio de Janeiro;
† 16. Dezember 2023 ebendort
brasilianischer Sänger, Gitarrist und Komponist, war zwar als Bossa-Nova-Musiker hierzulande weniger bekannt als z. B. João Gilberto, er schrieb aber zahlreiche Klassiker wie „Você e Eu“ oder „Minha Namorada“. In der Zeit des Bossa Nova tourte er ebenfalls mit den US-Jazzern wie Stan Getz. Er war bis zuletzt aktiv.
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