Für die deutsche Wikipedia gehört die britische Band Lindisfarne der Vergangenheit an. Dem würden die Anwesenden beim Auftaktkonzert der 2025er-Ausgabe der Folk Week im englischen Broadstairs wohl mit Verve widersprechen. Das Folkfestival feierte in diesem Jahr sein sechzigjähriges Bestehen. Alljährlich gehört der kleine südostenglische Küstenort im Sommer eine gute Woche lang der Folkmusik. Das Museum mit dem historischen Crampton Tower beteiligt sich, der Sailing Club, die vielen urigen Pubs. Musik erklingt aus offenen Fenstern, Gärten, Parks, im Promenadenpavillon der Victoria Gardens mit Blick aufs Meer. Es gibt Workshops, Singalongs, Playalongs, Künstlermeetings, den Craft & Music Fair. Viele freiwillige Helferinnen und Helfer tragen dazu bei, dass das nicht nur musikalisch volksnahe Festival in dieser Form stattfinden kann.
Text und Fotos: Harald Keller
Das reguläre Programm startete am 8. August, einem Freitag. Man hatte es aber noch um ein ausnehmend attraktives „Pre Festival Special“ am Donnerstag erweitert. Denn seit Anfang des Jahres sind die Folkrockpioniere Lindisfarne auf großer Tournee, die sie am 20. Dezember mit ihrem traditionellen Weihnachtskonzert in ihrer Heimatstadt Newcastle abschließen werden. Dieses Highlight mochte sich das Team der Folk Week augenscheinlich nicht entgehen lassen. Das Publikum dankte es. Das Konzert im Baptist Centre an der Queen’s Road, dem zentralen Veranstaltungsort des Festivals, war lange im Voraus ausverkauft.
Lindisfarne ging aus der Formation Downtown Faction hervor, nannte sich zunächst Brethren, bis man sich 1968 entschied, den Namen der nahe Newcastle gelegenen geschichtsträchtigen Gezeiteninsel Lindisfarne zu übernehmen. Zwei Jahre später erhielten sie einen Plattenvertrag und brachten ihr erstes Album Nicely Out Of Tune heraus. Es enthielt bereits die Titel „Clear White Light“ und „Lady Eleanor“ ‒ war aber ein Misserfolg. Das änderte sich im Jahr darauf mit dem Nachfolger Fog On The Tyne ‒ Platz eins der Albumcharts, Platz fünf für die Auskopplung „Meet Me On The Corner“. Aufgrund der neu gewonnenen Popularität wurde „Lady Eleanor“ noch einmal als Single herausgebracht ‒ und prompt ein Hit. Auch in den USA konnten Lindisfarne reüssieren. Der kommerzielle Erfolg paarte sich mit höchstem Kritikerlob, vor allem für die Songwriterqualitäten des Bandmitbegründers Alan Hull.
Auf die triumphalen Anfangsjahre folgten wechselvolle Zeiten mit Umbesetzungen, Unterbrechungen, Nebenprojekten, Neuanfängen. Alan Hull starb 1995. Sein Schwiegersohn Dave Hull-Denholm, schon seit 1994 dabei, trägt die Fackel weiter. Neben ihm gehört heute noch Mitbegründer Rod Clements zur Formation, ferner der Multiinstrumentalist Steve Daggett, in den Achtzigern Produzent der Band, Tourmusiker und seit 2013 festes Mitglied. Paul Smith besetzt die Drums. Gerade erst in Freundschaft ausgeschieden ist der langjährige Bassist Ian Thomson. Für ihn kam der weithin geschätzte Neil Harland, der unter anderem Erfahrungen aus den Sparten Singer/Songwriter und Folklore mitbringt.
Das 1978 erschienene zweite Livealbum der Band trägt den Titel Magic In The Air, nach einer Zeile aus ihrem Lied „Dingly Dell“. Und diese Magie ihrer Konzerte, für die sie berühmt waren, ist fraglos noch da. Nicht zuletzt dank Keyboarder, Gitarrist und Sänger der Sonderklasse Dave Hull-Denholm. Er intoniert die gefühlvollen Balladen aufrichtig, zutiefst berührend, manchmal ganz leise und melancholisch, wird aber kraftvoll, wenn sich die Band von ihrer rockigen Seite zeigt.
Lindisfarne beginnen das Konzert mit „No Time To Lose“ (sic!) und weiteren Songs aus den frühen Jahren wie eben „Lady Eleanor“ – von Rod Clements anschließend augenzwinkernd kommentiert mit: „Ich bin froh, dass ihr den erkannt habt.“ Dann kündigt er an, sie würden jetzt mit neueren Songs weitermachen. Das Publikum stutzt, Clements schweigt. Dann grinst er schelmisch. „An diese Totenstille bin ich gewöhnt.“ Und erläutert, als „neuere Songs“ verstehe er die aus den Neunzigern, denn die Band sei ja schon eine geraume Zeit unterwegs. Zu diesen „neueren Songs“ gehört „Anyway The Wind Blows“ mit einem Text über die damalige Wirtschaftskrise. Manche Zeilen davon sind unvermindert aktuell.
Ob „Road To Kingdom Come“, „Meet Me On The Corner“ und natürlich „We Can Swing Together“ ‒ das Publikum muss nicht aufgefordert werden, die Refrains mitzusingen. Fachlich versierte Menschen könnten einmal der Frage nachgehen, ob Bands wie Coldplay mit ihren stadiontauglichen Hymnen nicht das eine oder andere von den Folkrockbands der Sechziger und Siebziger gelernt haben. Keinesfalls fehlen darf auch „Fog On The Tyne“ ‒ man sagt, der liebe Gott habe den Nebel nur erfunden, damit dieser Song geschrieben werden konnte. Buchstäblich das Schlusslicht setzt die Band mit „Clear White Light“.
Die Musiker strahlen, Dave Hull-Denholm bedankt sich. Der Abend sei die siebzehnstündige Anreise wert gewesen. Für ihn ein Scherz, für den Besucher aus Deutschland eine beinahe zutreffende Zeitspanne und somit aus dessen Warte vollumfänglich korrekt.
PS: Lindisfarne befinden sich nicht etwa auf Abschiedstour. Die ersten Termine für 2026 stehen bereits fest. Deutschland ist bislang leider nicht vertreten.









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