Die Folkikone meldet sich noch einmal mit einem überwältigenden Auftritt zurück. Drei Jahre nach dem Ende ihrer musikalischen Karriere überrascht Joan Baez mit einem aufwühlenden Dokumentarfilm über ihr Leben. Gemäß des Filmtitels I Am A Noise („Ich gebe keine Ruhe“) erhebt die 82-Jährige noch einmal ihre Stimme und zeichnet anhand unveröffentlichten Materials aus ihrem eigenen Archiv nicht nur wichtige Stationen ihrer beispiellosen Karriere nach. Sie gewährt vor allem auch schonungslose Einblicke in ihre Seelenlage, die seit ihrer Jugend von psychischen Problemen geprägt war.
Es ist ein ehrliches, intimes, oft schmerzhaftes Porträt, das ungeahnte Seiten der politischen Aktivistin offenbart. Den Rahmen des Films der Regisseurinnen Miri Navasky, Maeve O’Boyle und Karen O’Connor bildet Baez’ Abschiedstournee 2018/19. Zwischen den Konzertausschnitten blicken sie darauf zurück, wie die Folksängerin in ihrer musikalischen Quäkerfamilie aufwuchs, wie sie sich bereits als Teenager Gedanken über Frieden und Leid in der Welt machte und früh die Leidenschaft für das Singen entdeckte. Mit achtzehn war Baez bereits ein Star und zierte das Cover des Time-Magazins.
Der Blick geht aber auch zurück zu den durch Konkurrenz geprägten Beziehungen mit ihren beiden Schwestern Pauline und Mimi, ihrer Partnerschaft mit Bob Dylan, der ihr nach eigenen Worten das Herz gebrochen habe, zu ihrem politischen Engagement etwa in der Bürgerrechtsbewegung und der Ehe mit dem Aktivisten David Harris, die nicht lange andauerte, sowie der Versöhnung mit ihrem Sohn Gabriel, der sie auf ihrer Tour als Percussionist begleitete.
Seine Intensität bezieht der Film aber auch durch Kassettenaufnahmen der Musikerin, bei denen es sich um gesprochene Nachrichten an die Eltern oder Therapiesitzungen handelt. Denn die erfolgreiche Sängerin und Songschreiberin litt seit ihrer Jugend an Panikattacken und war bis ins hohe Alter immer wieder in psychologischer Behandlung. Innere Zweifel und depressive Phasen begleiten sie bis heute. Doch die Therapien, denen sich auch ihre 2001 verstorbene Schwester Mimi unterzog, brachten auch den traumatischen Verdacht des Missbrauchs durch ihren Vater, den Physiker Albert Baez, an die Oberfläche. Joan Baez weiß, dass vieles vielleicht nur mentale Tricks ihrer Erinnerung sein könnten, aber einiges stimme, auch wenn sie nichts beweisen könne. Als letzte Überlebende ihrer Familie müsse sie das auch nicht.
Der Film präsentiert eine gereifte Musikerin, die mit sich sowie den Höhen und Tiefen ihres Lebens im Reinen zu sein scheint und auch im hohen Alter noch jugendliche Kraft ausstrahlt. Ein fantastischer, ergreifender Film einer großen Persönlichkeit, für jeden Folkfan ein Muss.
Erik Prochnow
Deutscher Trailer:
Miri Navasky, Maeve O’Boyle, Karen O’Connor
Joan Baez – I Am A Noise
(Alamode Film; Kinostart: 28.12.2023)
USA, 2023; 109:00
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