ESC-Gegner wurden 2017 womöglich eines Wohlklingenderen belehrt, als ein schlaksiger, in unglamouröses Schwarz gewandeter junger Portugiese für sein Heimatland die Gewinnertrophäe einheimste. Sein seelenvoller Auftritt mit der von Schwester Luísa komponierten Ballade „Amar Pelos Dois“ erweist sich im Nachhinein als in doppelter Hinsicht einmalig und hilfreich für den weiteren Werdegang des eigenwilligen Sängers.
Text: Katrin Wilke
Ach, dieser herzkranke ESC-Gewinner? Dies hört man meistens, fragt man Leute nach Salvador Sobral. Tatsächlich bekam der gebürtige Lissabonner schon bald nach jenem Triumph in Kiew ein neues Herz eingepflanzt. Mittlerweile wirkt er physisch nicht mehr so fragil wie beim Auftritt bei jener weltgrößten Musikveranstaltung. Der genesene 29-Jährige strotzt heute, zwei Jahre später, vor Energie. Davon samt seiner spleenigen Heiterkeit konnte man sich bei seinen allerersten Deutschlandkonzerten im April überzeugen. Dabei genoss er nach eigener Aussage schon vor seiner heiklen Operation das Leben in vollen Zügen – das zeigen ältere, teils auch privat verfertigte Musikaufnahmen.
Die Geschichte vom schwerkranken, hochbegabten Knaben mit der Nachtigallenstimme, dem so plötzlich Weltruhm und ein zweites Leben zuteilwerden: Stoff für eine gefühls- und klischeeträchtige Telenovela. Doch der humor- und ironiebegabte Sänger winkt ab. In den langen Krankenhauszeiten sei das neue Album nicht herangereift, so anrührend seine Fans das auch fänden. Dabei ist der stark von Literatur und Film inspirierte Künstler selbst Romantiker. Allein seine hohe, mitunter schnörkelig-theatralische Gesangsstimme verrät das. Ebenfalls die mit eigenen Texten versehenen oder komplett von anderen, zum Beispiel seiner versierten Singer/Songwriter-Schwester oder seinem Studienkumpel, dem Venezolaner Leonardo Aldrey komponierten Lieder – gerne Boleros, auch jazzballadeske Songs seiner brasilianischen Idole.
Der muntere, gar nicht altmodisch wirkende Freigeist scheint aus der Zeit gefallen. „Das sagen mir viele Leute. Ja, ich bin eine alte Seele, dachte auch immer, ich hätte wegen der Musik gerne in den Zwanzigern gelebt“, so Salvador Sobral, der wie dazu passend seine Deutschlandkonzerte mit „Kein Schwein ruft mich an“ beschloss. Den Song intonierte der offenbar Sprachbegabte – Sprachen sind für ihn so wichtig wie Musik – in passablem Deutsch, mit Max Raabes Retrocharme, sich dabei selbst am Piano begleitend. „Damals hätte ich aber mit meiner Krankheit nicht überlebt, bin also sehr froh und dankbar, in jetzigen Zeiten mit dieser Medizintechnologie geboren zu sein“, so der pragmatisch-nüchterne Schluss. Der urige Shootingstar adeliger Abstammung schließt übrigens aus, noch einmal beim Eurovision Song Contest mitzumachen, wie er dem Journalisten und ESC-Experten Jan Feddersen gegenüber kundtat. Nachzulesen auf der Website des Events samt der „Androhung“, dass wenn er 2019 in Israel aufgetreten wäre – Sobral sagt „Palästina“ –, dann in einem „Free-Palestine“-T-Shirt.
Mit Derartigem muss man bei diesem Mann wohl rechnen, der schon auf einer Pressekonferenz vor jenem 2017er-Finale die Veranstalter mit seinem „SOS-Refugees“-T-Shirt nicht amüsierte. Kein Zweifel, bei diesem wahrlich wenig stromlinienförmigen Künstler und Menschen vertragen sich fröhlich-anarchische Ungezwungenheit, eine gewisse Unkalkulierbarkeit für sein Management und das Musikbusiness inklusive, bislang gut mit der Geschmeidigkeit und Eleganz seiner musikalischen Arbeit. Und die streckt sich auch dann nicht nach irgendwelchen popkulturellen Trends, wenn Sobral eher indiepop-rockige Wege beschreitet, wie auf dem 2017 erschienenen Debütalbum seiner Band Alexander Search. Die formierte er zusammen mit seinem Pianisten Júlio Resende 2016. Im selben Jahr legte der umtriebige Mittzwanziger auch sein erstes Album unter eigenem Namen vor.
Auf Excuse Me wie auch auf dem gleichfalls polyglotten Nachfolger Paris, Lisboa frönt er deutlich seiner Liebe zum Jazz. In den vertiefte sich der vielfach länger in Spanien weilende Portugiese unter anderem in Barcelona, nachdem er sein Psychologiestudium zugunsten der Musik geschmissen hatte. Den Fado vor der Haustür meint man in Sobrals weltläufigen Songs nur mittelbar zu vernehmen, die vielseitige Liedkultur Lateinamerikas etwa hinterlässt deutlichere Spuren. Der gefühlsintensive Charaktersänger präzisiert: „Indirekt ist der Fado immer präsent, seine Melancholie und Nostalgie. In meiner Musik wie auch in der meiner Schwester. Ebenso sind es die Harmonien. Und mein Pianist Júlio spielt im Grunde Fado, wenn er musiziert. Er hat Portugal in den Fingern.“ Sein langjähriger Mitstreiter sowie die anderen Instrumentalisten im Studio und auf der Bühne, der facettenreiche Schlagzeuger Bruno Pedroso und der nicht minder expressive Kontrabassist André Rosinha, sind in ihrem Spiel vom Freiheitsgeist des Jazz geprägt.
Das dem Albumtitel namentlich nächste Lied ist „Paris, Tokyo II“ – mit beidem verneigt sich der Filmenthusiast vor dem von ihm so verehrten Wim Wenders und dessen Werk, Filmen wie Paris, Texas oder Der Himmel über Berlin. Zum fast afrikanisch anmutenden Drive dieses Liedes passt die darin eher assoziativ umrissene Geschichte einer intensiven, vielleicht flüchtigen Liebesbegegnung. Es mag Kenner von Maria João an diese herausragende Vokalakrobatin Portugals erinnern. Nicht von ungefähr bekam hier der von Sobral selbst verfasste Text die Musik von Joel Silva, auch Produzent von Paris, Lisboa. Dieser arbeitet wiederum als Musiker auch mit besagter Lissabonner World-Jazz-Sängerin. Für sie hat ihr junger Landsmann nur Superlativen übrig: „Sie ist für mich die allerfreieste, ja außerirdische Sängerin des Jazz im allerweitesten Sinne. Und daher für mich auch ein wichtiger Bezug.“
Emotional zusammengehalten werden die neu eingespielten zwölf Lieder – darunter welche auf Englisch, Spanisch und Französisch – von den existenzialistischen Ambivalenzen, die der einst schwer erkrankte Sänger durchlebt hat. Der besonders intensive Album-Opener mit dem kryptischen Titel „180, 181 (Catarse)“ beginnt mit eindringlich-getragenem Trommelschlag, der einen an die Prozessionsmarschmusik Südeuropas denken lässt. „Der Song hat etwas von dieser Katharsis, etwas Psychotherapeutisches, um jene schwierige Vergangenheit zu überwinden. Er geht auf ein Gedicht von vor drei Jahren zurück, in dem ich mir einen Mann ausdachte. Der liegt 180 Tage nach einem Autounfall im Koma, bei dem er jemanden totfuhr. Nun ist er unsicher, ob er aus dem Koma erwachen und sich den Konsequenzen stellen soll oder nicht. Jenen Text wandelte ich nun nach all dem Erlebten etwas um, er wurde doppeldeutiger, vielleicht auch autobiografischer.“ Ja, Musik ist eben kein schnell gezündetes Feuerwerk, sondern Gefühl – so Salvador Sobral in seiner kurz improvisierten Gewinnerbotschaft damals beim ESC. Das sieht und praktiziert er heute keinen Deut anders: „Ein gutes Lied muss wahrhaftig sein, man muss sich aufrichtig, mit Emotion hineingeben.“
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