Natalie Merchant

Das Tor zu einem verlorenen Amerika

25. September 2024

Lesezeit: 4 Minute(n)

Vor fast fünfzig Jahren gründete der US-Kongress das angesehene American Folklife Center (AFC) in Washington D. C., um die vielfältige amerikanischen Folklore zu bewahren. Heute verfügt die zur Kongressbibliothek gehörende Institution weltweit über das größte Kulturarchiv. Seit zwei Jahren ist Natalie Merchant Mitglied des Kuratoriums. Der folker sprach mit der renommierten Singer/Songwriterin über die Bedeutung ihres ungewöhnlichen Amtes.
Text: Erik Prochnow

Frau Merchant, wie sind Sie in das Kuratorium des AFC berufen worden?

Die Kuratoriumsmitglieder werden für sechs Jahre benannt, entweder durch den Präsidenten, den Führer der Mehrheit im Parlament oder die Kongressbibliothek. Ich wurde vom demokratischen Senator des Staates New York, Charles Schumer, im November 2022 ausgewählt. Für mich war es eine große Ehre, und ich habe sofort angenommen.

Was genau ist Ihre Aufgabe?

Es ist das Ziel des Centers, vor allem die traditionellen amerikanischen Künste wie Musik, Tanz, Handwerk und das Geschichtenerzählen zu bewahren. Wir haben weltweit das größte ethnografische Archiv von Klangaufnahmen etwa der Ethnomusikologen John und Alan Lomax aus den Dreißigerjahren. Ihre ungeschminkten Musikaufzeichnungen sind ein magisches Tor zu einem verlorenen Amerika. Es wird geschätzt, dass die Sammlung des AFC rund sechs Millionen Artefakte wie Klangaufnahmen, Fotografien, Feldnotizen und Filme – inzwischen auch von Traditionen aus der ganzen Welt – ­umfasst. Als Kuratoriumsmitglied und eine von nur zwei Künstlerinnen berate ich die Mitarbeitenden des AFC.

Warum ist diese Aufgabe aus ihrer Sicht wichtig?

Ich habe gelernt, dass die Folkkultur sehr vielfältig ist und sich in ganz verschiedenen Formen ausdrückt. Während unseres Kuratoriumstreffens im Frühling in New Orleans erhielten wir eine außergewöhnliche Führung durch die Stadt und die Region. Wir haben zwei schwarze indianische Maskentänzer getroffen, die aus Familien der Mardi-Gras-Prozessionsklubs abstammen, wir hörten traditionellen New-Orleans-Jazz und besuchten Cajunmusikschaffende im Bayou, die ihre eigenen Instrumente wie Violine und Akkordeon fertigen sowie ihre einzigartige Sprache des akadischen Französisch bewahren. Wir haben Mitglieder der Houma Nation getroffen, die mit uns über ihre Heilpflanzentradition und ihre uralte Technik sprachen, Körbe aus Sumpfschilf zu flechten.

„Traditionelle Songs beleuchten die realen Erfahrungen von Menschen ferner Epochen.“

Natalie Merchant

Foto: Jacob Blickenstaff

Weshalb sollte traditionelle amerikanische Musik bewahrt werden?

Traditionelle Musik gibt den Menschen ein Gefühl von Identität und geschichtlicher Kontinuität. Sie kann eine Gruppe zusammenhalten, eine gesunde Gemeinschaft schaffen und ihre Gemeinsamkeiten feiern. Zudem enthält sie ihre Geschichten.

Besteht die Gefahr, dass die traditionelle Musik in der Zukunft verloren gehen könnte?

Durch die Einführung des Radios in den 1920er-Jahren und die folgenden Technologien der Massenmedien ist unsere kulturelle Vielfalt zerstört worden. Gleichzeitig ist durch das Internet und die Digitalisierung alle aufgenommene Musik nur einen Klick entfernt, etwa wenn wir nach historischen Aufnahmen oder Forschungspublikationen mit notiertem Folkmaterial suchen. Auch gibt es viele junge Menschen, die sich nach der Authentizität und Erfahrungstiefe der Folkmusik sehnen und sie live hören oder spielen möchten. Das ist ermutigend.

Sollte diese Musik stärker in Schulen unterrichtet werden?

Ja, wir müssen diese Lieder und die damit verbundenen Kreisspiele den Kindern vermitteln. In meiner Freiwilligenarbeit für das staatliche Head-Start-Programm in Grundschulen vor der Pandemie habe ich dreimal in der Woche mit einem Gitarristen und einem Geiger Schulen besucht. Die Kinder waren elektrisiert von ganz einfachen Spielen und Liedern, die wir ihnen beibrachten.

Was bedeutet traditionelle amerikanische Folk- oder Rootsmusik für Sie persönlich?

Ich liebe traditionelle Musik aus jedem Land der Welt. Sie präsentiert faszinierende Klanglandschaften, die es zu entdecken gilt, wie etwa akustische Instrumente, Gesangsharmonien, rhythmische Muster, Balladen, Tänze, Geschichten. Amerikanische Musik beinhaltet dieselbe Art an Informationen, eine Mischung grenzenloser menschlicher Erfahrung.

Welche Lieder haben Ihre eigene Musik beeinflusst?

Als ich jung war, habe ich tatsächlich viele traditionelle Balladen aus Irland und von den Britischen Inseln gehört, und sie haben definitiv meine Texte beeinflusst. Sie haben mich gelehrt, dass Songs Geschichten in einer sehr einfachen Sprache erzählen sollten. Mit sechzehn habe ich mir die Anthology Of American Folk Music von Harry Smith aus der Bibliothek ausgeliehen. Es ist eine einzigartige Sammlung vorindustrieller Musik. Ich war begeistert. Die Sammlung brachte mich mit einem Amerika in Berührung, das fast verschwunden war.

Sehen Sie ihre Lieder als Teil dieser traditionellen Musik – ­musikalisch wie textlich?

Mein Lied „Motherland“ ist ein international anerkannter Folksong geworden. Er wurde in Irland, Brasilien, Israel und Frankreich aufgenommen. Es fühlt sich so an, als ob er aus meinen Händen heraus eine lange Reise angetreten hat und mich nicht länger braucht, um zu existieren. Es wäre großartig, wenn das Lied mich und mein Urheberrecht daran überleben würde.

Wie wichtig ist es für Sie, dass Musik politische und soziale Themen wie Armut behandelt?

In traditionellen Songs finde ich so viele Wahrheiten, die die realen Erfahrungen von Menschen ferner Epochen beleuchten. Sie belegen, dass uns Ungleichheit, Vorurteile und viele andere gesellschaftliche Krankheiten seit dem Beginn der menschlichen Geschichte begleiten. Ich versuche auch mit meiner Musik, die Wahrheit über Ereignisse meiner Zeit zu erzählen. Allerdings bin ich über etwas besorgt. Wir lagern zwar Millionen von Aufnahmen in unserer AFC-Sammlung, aber wir haben auch eine Bevölkerung, die nicht danach verlangt, sie zu hören. Selbst wenn wir diese Mitschnitte digitalisieren und öffentlich zugänglich machen, könnten sie aus unserem Alltag verschwinden.

3

Aufmacherbild:

Natalie Merchant

Foto: Jacob Blickenstaff

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Werbung

L