Als Daniel Kahn vor Jahren die Musik des russischen Sängers Bulat Okudschawa kennenlernte, wusste er gleich, er würde dessen Lieder eines Tages aufnehmen. Jetzt fühlt er sich reif dafür. Sein neues Album Bulat Blues wirkt gleichzeitig aus der Zeit gefallen und gegenwärtig.
Text: Guido Diesing
Der Name Bulat Okudschawa ist so etwas wie ein Lackmustest, mit dem man Herkunft und Sozialisation eines Musikhörers feststellen kann. Während Menschen aus dem früheren Ostblock wissend bis schwärmerisch reagieren, wenn der Name fällt, stößt man in der westlichen Welt mehrheitlich auf Schulterzucken. Daniel Kahn war da keine Ausnahme, bis ihn sein Freund und Kollege Psoy Korolenko auf den 1997 gestorbenen Sänger aufmerksam machte, der das Genre des russischen Autorenlieds mitbegründet hat und als „Georges Brassens der Sowjetunion“ gilt. „Ich spürte sofort eine spirituelle Verbindung, obwohl ich die Texte nicht verstand“, erinnert sich Kahn an das erste Hörerlebnis. „Ich habe ihn wiedererkannt, ohne ihn vorher gekannt zu haben.“
Der in Detroit geborene Wahlberliner, der für die Arbeit mit seiner Band The Painted Bird zwischen Klezmer, Folk, Rock, Punk und Lyrik bekannt ist, begann, sich näher mit Okudschawa zu befassen. Mit der Hilfe russischsprechender Freunde übertrug er erste Songtexte ins Englische. „Die postsowjetischen Communitys, mit denen ich eng verbunden bin, bestehen wesentlich aus Menschen, die im Rahmen der großen jüdischen Auswanderung aus der Sowjetunion in den Westen gekommen sind. Okudschawas Lieder sind für sie ein wertvoller Schatz, den sie mitgebracht haben. Sie sprechen über ihn wie über einen engen Freund. Die Intimität, die darin zu spüren ist, bewegt mich.“ Mit Blick auf Okudschawas Bedeutung für den Osten geht Kahn so weit, ihn mit Bob Dylans Rolle im Westen zu vergleichen. „Seine einzigartige Stimme und sein leiser Humor stehen in der Tradition europäischer Songpoeten“, fasst er zusammen. „Sein musikalischer und lyrischer Gestus erinnert mich aber ebenso an seinen amerikanischen Zeitgenossen Leonard Cohen.“
Für die Aufgabe, Okudschawa mit englischen Übertragungen einen Weg ins Bewusstsein westlicher Musikhörer zu ebnen, hätte es keine bessere Wahl als Daniel Kahn geben können. Schon von seinen ersten Alben und Bühnenprogrammen an besticht sein Talent, mit enormem Einfühlungsvermögen zwischen verschiedenen sprachlichen Welten zu vermitteln. Ganz gleich, ob er englische Versionen von jiddischen Liedern, Texten Tucholskys und Brechts erstellt oder Degenhardt und „Lili Marleen“ ins Jiddische überträgt.
Auf den Alben mit The Painted Bird wechselt Kahn in vielen Liedern strophenweise zwischen verschiedenen Sprachen und macht so im Nebeneinander hörbar, wie bereichernd es ist, dass es ihm nicht um wörtliche Übersetzungen geht. „Das Übertragen eines Gedichts ist eine Art von Nach- oder Wiederdichtung, bei der man sich Freiheiten nehmen sollte“, erläutert er seinen Ansatz. „Man muss sich selbst die Erlaubnis geben, etwas anders auszudrücken als das Original. Es kommt darauf an, die richtigen Fragen an das Original zu stellen und zu versuchen, die Dinge zu übersetzen, von denen schon das Original eine Übersetzung war: die Intention des Autors.“
„Wir müssen Orte für die kleinen zarten Dinge schützen.“
Auf diese Weise gelingt es ihm, gleichzeitig der Vorlage gerecht zu werden und sich selbst treu zu bleiben. Vergleicht man die Songs auf Bulat Blues mit Okudschawas Versionen, stellt man fest, dass Kahn musikalisch sehr nah an den Originalen geblieben ist. Hört man sie aber ohne Kenntnis der ursprünglichen Fassungen, so könnte man sie ohne Weiteres für Kahns eigene Stücke halten. „Das liegt daran, dass ich Songs schreiben wollte, die nach mir klingen, nicht nach Okudschawa in Englisch“, erklärt der Amerikaner. „Es sind seine Songs, aber es ist mein Englisch. Es muss in Englisch als guter Song funktionieren, als Song, den man auch selbst hätte schreiben wollen. Ich möchte den Gedichten gerecht werden, indem ich Versionen schreibe, die das Publikum emotional berühren.“
Über sechs Jahre ließ er sich Zeit, bis nicht nur seine Übersetzungen, sondern auch er selbst bereit war. „Ich war nicht in Eile. Okudschawas Stimme hat eine bestimmte Reife, die ich auch in meinen Versionen erreichen wollte. Ich dachte, ich sollte mindestens vierzig sein, bevor ich die Songs aufnehme.“ Vieles passierte während dieser sechs Jahre. Als Kahn im Jüdischen Museum Berlin eine seiner Okudschawa-Übertragungen aufführte, lernte er die aus Sankt Petersburg stammende Yeva Lapsker kennen. Sie mochte seine Übersetzung – inzwischen ist sie seine Frau. Sie hat an weiteren Textübertragungen mitgewirkt und ist einer der Gründe dafür, dass Kahn das neue Album als „sehr persönliches Projekt“ bezeichnet. Aufgenommen im Duo mit dem russischen Gitarristen Vanya Zhuk, zu dessen Begleitung Kahn neben dem Gesang eine zweite Gitarre, hin und wieder Akkordeon und ein wenig Mundharmonika beisteuert, kommt Bulat Blues im Liedermachergestus daher – reduziert und aufs Wesentliche konzentriert. Ganz in der Tradition Okudschawas, der seine Lieder in Wohnzimmern sang, von wo aus sie durch die Weitergabe von Kassettenaufnahmen landesweit bekannt wurden.
Daniel Kahn freut sich auf anregende Konzerte mit dem neuen Programm: „Viele unserer Auftritte finden in jüdischen Einrichtungen vor einem jüdisch-russischen Publikum statt, was eine sehr interessante Begegnung ist. Wir spielen vor Zuschauern, die diese Lieder sehr gut kennen, und Zuschauern, die Okudschawas Musik nicht kennen, aber dafür meine. Ich schätze die Möglichkeit sehr, diese Songs mit einem Publikum zu teilen, das sich von dem unterscheidet, für das sie ursprünglich geschrieben waren.“
Dass ein so engagierter und politisch wacher Künstler wie Kahn, der mit seinen bisherigen Alben stets auf intelligente, aufrüttelnde und kraftvolle Art Politisches und Soziales kommentiert und jüdische Geschichte verarbeitet hat, gerade jetzt ein so zurückhaltendes, poetisches Werk veröffentlicht, überrascht. „Tatsächlich hat die Zeit nicht auf dieses Album gewartet“, räumt er ein. „Aber eine Sache, die mir gleich beim ersten Hören von Bulat Okudschawa aufgefallen ist, ist eine große Zärtlichkeit, dazu ein tiefer Humor, Intelligenz und Menschlichkeit. Gerade in turbulenten Zeiten des Umbruchs und der Angst – und ich denke, dass wir in einer Zeit großer Angst leben – sind es die wertvollen, zarten, menschlichen Dinge, die wir beschützen müssen. Natürlich müssen wir angesichts von Faschismus, Rassismus und Sexismus, von Unterdrückung, Krieg und Antisemitismus auch lautstark protestieren. Und ich verbringe viel Zeit damit, über diese Themen zu reden und zu singen. Aber wir müssen auch Orte für diese kleinen zarten Dinge schützen. Das neue Album ist ein Teil dieser Notwendigkeit.“ Und ein neuer wertvoller Schatz.
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