Sam Lee

Der mit den Nachtigallen singt

12. März 2020

Lesezeit: 4 Minute(n)

Er hat eine dieser Stimmen, die den Zuhörer sofort in den Bann ziehen – weich, sonor und einschmeichelnd. Aber auch inhaltlich hat Sam Lee eine Menge zu sagen. Auf seinem dritten Album Old Wow beklagt der Brite die wachsende Entfremdung des Menschen von der Natur. Auch neben der Musik engagiert er sich für Umweltthemen.
Text: Guido Diesing

Als Sam Lee vor rund acht Jahren auf der englischen Folkszene erschien, stieß er auf großes Interesse. Der Sohn einer jüdischen Mittelschichtsfamilie aus dem Norden Londons war unverkennbar anders als die meisten der herkömmlichen Folksänger – eine schillernde Figur. Nach einem Kunststudium hatte er als Tänzer in einer Burlesque-Show gearbeitet und sein Geld als Survival-Lehrer verdient. Erst als Mittzwanziger und auf Umwegen hatte er Interesse an englischem Folk entwickelt, sah sich entsprechend selbst als Seiteneinsteiger und betrat ungewöhnliche Wege. Statt Archive nach alten Liedern zu durchforsten, ging Lee beim umherziehenden traditionellen Sänger Stanley Robertson in die Lehre und wurde selbst zum Sammler, suchte die Gemeinschaften der schottischen und irischen Traveller auf, um in ihren Wohnwagen von alten Sängerinnen und Sängern aus erster Hand mündlich überlieferte Songs zu lernen. Seine Liveband in der Besetzung mit Trompete, Geige, Cello, einer japanischen Koto, einer indischen Shrutibox und Percussion war alles, nur keine gebräuchliche Folkband.

Bis heute ist Sam Lee für ungewöhnliche Projekte gut. Sechs Wochen im Jahr verbringt er damit, unter dem ganz wörtlich gemeinten Titel „Singing With Nightingales“ Interessenten mit offenen Ohren auf nächtliche Streifzüge in die englische Natur zu führen, wo er mit wechselnden Mitstreitern den musikalischen Dialog mit Nachtigallen sucht. 2019 gelang es ihm im Rahmen einer Kampagne der Vogelschutzgesellschaft RSPB, den Track „Let Nature Sing“ in den britischen Top-20-Charts zu platzieren – ein Stück, das ausschließlich aus Aufnahmen von Vogelstimmen besteht, die Lee für die Veröffentlichung arrangierte.

Und nun also das dritte Album, das gleichzeitig an die Vorgänger anknüpft und neue Akzente setzt. „Ich singe weiterhin traditionelle Songs, um mit ihnen etwas zu erzählen, das uns angeht, unsere Gemeinschaft, unser Erbe“, erklärt Sam. „Was dieses Album besonders macht, ist das Thema Natur, ihre Wichtigkeit für unser Leben. Das ist eine Konstante in Folksongs, die uns deshalb viel darüber zu sagen haben, wie wir in Verbindung mit dem bleiben können, was in unserem Leben wichtig ist und was wir zu verlieren drohen.“

„Wir müssen Menschen mit Liedern erreichen, weil diese das mächtigste Werkzeug sind.“

In zehn Stücken, fast durchgängig im ruhigen, bisweilen fast elegischen Tempo, zeigt sich der mittlerweile 39-Jährige nachdenklich, aber auch gelegentlichem Drama nicht abgeneigt. Er kostet die Möglichkeiten aus, die ihm seine gewachsene Reife als Sänger verschafft, und brilliert in gefühlvollen Balladen voller unterschwelliger Spannung. Wenn es darum geht, alte Lieder zu bearbeiten und zu modernisieren, nimmt er sich nach wie vor alle Freiheiten. „Worte und Melodie sind alles, was wir haben. Was darüber hinausgeht, ist verhandelbar.“

Lees aktuelle Band, die das Grundgerüst des Albums liefert, ist mit dem Pianisten James Keay, dem Bassisten (und Dirigentensohn) Misha Mullov-Abbado und dem Percussionisten Josh Green nicht gerade folktypisch, aber doch vergleichsweise konventionell besetzt. Gastmusiker an Geigen, Cello, Dulcimer, der japanischen Shakuhachi-Flöte und Viola d’amore (gespielt von The-Gloaming-Mitglied Caoimhín Ó Raghallaigh) bereichern die Arrangements mit interessanten Farben, die Lee wichtig sind. „Sie erzeugen ausdrucksstarke, eher unvertraute Klänge mit vielen Obertönen, mit denen ich kraftvolle altertümliche Schattierungen und Klangwelten erzeugen kann.“

Zusätzlich dockt er gleich zweifach an die Welt des anspruchsvollen Pop an. Da ist zum einen Elizabeth Frazer (Ex-Cocteau-Twins), die als Gastsängerin „The Moon Shines Bright“ veredelt, zum anderen hat der ehemalige Suede-Gitarrist Bernard Butler das Album produziert. Nebeneffekt dieser Personalie ist ein Novum: Zum ersten Mal findet sich auf einem Sam-Lee-Album eine Gitarre, ein Instrument, von dem er sich bisher bewusst ferngehalten hat. „Es gibt kein Album in der Folkwelt ohne eine Gitarre darauf. Es ist, als würdest du in ein Restaurant gehen und es gäbe nur Gerichte mit Reis, als wäre die Gitarre ein musikalisches Grundnahrungsmittel. Für meine Karriere war sie nie nötig. Ich habe nichts gefunden, das nicht von anderen Instrumenten in ausdrucksvollerer und einzigartigerer Weise ausgedrückt werden könnte.“ Passend dazu sind Butlers Beiträge weit entfernt von Folkgitarren-Klischees. Sein Spiel auf der E-Gitarre mischt sich als zusätzliche Klangfarbe unter die Streicher.

Sam Lee; Foto: Frederic Aranda

Eine weitere Premiere stellt die Spiritual-Bearbeitung „Lay This Body Down“ dar, die klanglich eine neue Tür aufstößt. „Es ist neu, dass ich etwas aufgenommen habe, das nicht von den Britischen Inseln stammt“, bestätigt er. „Aber im Grunde sind es alles spirituelle, andächtige Songs, ganz gleich, ob sie von Sklaven des späten neunzehnten Jahrhunderts stammen oder von einem englischen Gypsy im Jahr 2019. Sie handeln alle von derselben Sache. Ich will eine Kontinuität zeigen und nicht auseinanderdividieren, was woher kommt.“

Die Tendenz, sich von anderen abzugrenzen, und das daraus folgende Fehlen von Diversität sieht er als Problem, das auch die britische Folkszene betrifft. „Ich empfinde große Liebe für die Folkwelt, aber auch viel Frustration. Als Promoter und Konzertveranstalter stelle ich auf vielen Ebenen fest, dass die Folk-Community schwächer wird: Clubs schließen, die Betreiber geben auf oder setzen sich zur Ruhe. Die Plattformen für Folkmusik verschieben sich. Wir brauchen frische, fruchtbare Orte, an denen Folk existieren kann. Und nicht nur englischer oder britischer Folk, sondern Musik aller Kulturen und Länder.“

Das Thema Natur, das sein neues Album beherrscht, beschäftigt Sam Lee auch über sein musikalisches Wirken hinaus. Seit ihrer Gründung engagiert er sich in der Umweltschutzbewegung Extinction Rebellion. „Schon im September 2018 war ich bei den ersten Veranstaltungen dabei. Es ist eine komplizierte Organisation, aber ich glaube daran, dass sie wunderbare Arbeit leistet, die die Welt verändern wird.“ Wegen der Art, wie er Songs mit gesellschaftlichem Engagement verbindet, wird Sam Lee im Infotext zum neuen Album mit Pete Seeger verglichen – eine Traditionslinie, die er schmeichelhaft, aber nicht völlig unzutreffend findet. „Das ist ein sehr wohlmeinender Vergleich. Aber grundsätzlich muss in unterschiedlichen Zeiten dieselbe Art von Arbeit geleistet werden: Wir müssen Menschen mit Liedern erreichen, weil diese das mächtigste Werkzeug sind. Wir brauchen Lieder in unserer Bewegung, um uns zu vereinen und weiter zu wachsen.“

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samleesong.co.uk

Aktuelles Album:

Old Wow (Cooking Vinyl, 2020)

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