Southern Queens

Die amerikanischen Südstaaten und ihre musikalischen Meisterinnen

11. Juli 2019

Lesezeit: 6 Minute(n)

Nicht wenige Musikfreunde sind der Ansicht, dass unsere komplette populäre Musik in New Orleans geboren wurde. Wem diese Meinung zu radikal ist, der wird zumindest zugeben müssen, dass die amerikanischen Südstaaten Blues, Jazz, Country, Rhythm and Blues, Western Swing, Soul und somit die Grundlagen sämtlicher Stile zeitgenössischer Popmusik hervorgebracht haben. Und es wachsen immer wieder neue Musikerinnen nach, die ein tiefes Verständnis für das musikalische Vermächtnis ihrer Heimat haben.
Text: Rolf Thomas

Die Grenze zwischen Weiß und Schwarz ist immer noch ziemlich eindeutig, hat sich aber stärker aufgelöst, als das von der anderen Seite des Atlantiks zu erkennen ist. Folk und Country auf der weißen, Soul und Rhythm and Blues auf der schwarzen Seite sind noch einigermaßen dingfest zu machen – es gibt aber auch längst viele Künstlerinnen, die zwischen den Stilgrenzen wildern.

Mavis Staples wurde zwar nicht in den Südstaaten geboren, sondern in Chicago. Ihre verstorbene ältere verstorbene Schwester Cleotha, die genau wie Mavis und eine weitere verstorbene Schwester namens Yvonne zusammen mit ihrem Vater Roebuck „Pops“ Staples die Staple Singers bildeten, aber sehr wohl. Außerdem haben die Staple Singers die musikalische und politische Geschichte der Südstaaten geprägt wie kaum eine andere Band – denn Pops Staples war mit Martin Luther King befreundet, sein Song „Why? (Am I Treated So Bad)“ war mit ein Startschuss für die Bürgerrechtsbewegung der Sechzigerjahre.
Die Staple Singers sangen nicht nur für King, sondern wurden auch von den weißen Rockstars ihrer Zeit verehrt – Bob Dylan hielt bei Pops um Mavis’ Hand an (sie hat abgelehnt), die Staple Singers traten im Abschiedsfilm von The Band, The Last Waltz (Regie: Martin Scorsese), auf und hatten in den Siebzigerjahren gar zwei Nummer-eins-Hits in den USA, das ikonische „I’ll Take You There“ und das nicht ganz so bedeutende „Let’s Do It Again“. Mavis ist die letzte Überlebende der Familie und haut seit 2007 eine spektakuläre Platte nach der anderen raus – von „reifen Alterswerken“ möchte man bei der äußerst agil auftretenden Achtzigjährigen nicht reden. Das jüngste Album We Get By wurde von Ben Harper komponiert, arrangiert und produziert, der sich damit in eine beeindruckende Riege von Mavis-Produzenten einreiht, die von Curtis Mayfield und Prince über Ry Cooder bis Jeff Tweedy und M. Ward reicht.

„Es gibt längst viele Künstlerinnen, die zwischen den Stilgrenzen wildern.“

Rhiannon Giddens erlangte als Sängerin und Banjospielerin der Old-Time-Band Carolina Chocolate Drops Ruhm und Ehre – geboren wurde sie in North Carolina. Auf ihrem ersten Soloalbum Tomorrow Is My Turn spielte sie ausschließlich Songs, die von Frauen geschrieben oder gesungen worden waren – für die Platte erhielt sie eine Grammy-Nominierung als „Folk Album of the Year“. Ihr neues Werk There Is No Other ist von Joe Henry produziert worden und enthält neben sechs Originalen äußerst rare Coverversionen von „Brown Baby“ (Oscar Brown Jr.) über „Gonna Write Me A Letter“ (Ola Belle Reed) bis zum italienischen Traditional „Pizzica Di San Vito“. Das Album entstand in Zusammenarbeit mit dem italienischen Multiinstrumentalisten Francesco Turrisi, von dem Giddens ganz begeistert ist: „Für uns beide dreht sich alles um Bewegung. Wir nähern uns der Musik auf ähnliche Weise, da wir eine ähnliche Erziehung hinsichtlich der Herkunft von Musik genossen haben. Wenn es jedoch ums Musizieren selbst geht, spielen wir beide einfach, was wir fühlen.“

Giddens ist außerdem maßgeblich beteiligt am Album Songs Of Our Native Daughters, auf dem sie neben Amythyst Kiah, Leyla McCalla (siehe Folker 2/2019) und Allison Russell zu hören ist. Das Album ist Teil der Serie African American Legacy des verdienstvollen Labels Smithsonian Folkways und möchte eine verschüttete Tradition freilegen. Dabei zieht es eine Linie von den Zeiten der Sklaverei bis zu modernen Werkzeugen der Sklaverei wie Fernseher und iPhones. Die Rolle der schwarzen Frau in der amerikanischen Gesellschaft ist noch einmal besonders erschütternd, denn von den Vergewaltigungen durch weiße Sklavenhalter („Mama’s dress is red, it was white before“, heißt es in Giddens’ Song „Mama’s Cryin’ Long“) bis zu den alleinerziehenden schwarzen Müttern – schwarze Männer entziehen sich ihrer Verantwortung oder sitzen im Knast – zieht sich eine Linie von Demütigungen und Misshandlungen, die nicht zuletzt durch die #MeToo-Bewegung noch einmal nachdrücklich ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerufen wurden.

„Die Rolle der schwarzen Frau in der amerikanischen Gesellschaft ist erschütternd.“

Kiah, Giddens und ihre beiden Mitstreiterinnen wollen nicht länger stillhalten und nicht länger schweigen. Sie haben Gedichte vertont, Bob Marleys „Slave Driver“ interpretiert, aber vor allem eine Menge eigener Stücke geschrieben. Amythyst Kiahs Auftaktsong „Black Myself“ thematisiert eine für schwarze Frauen besonders unangenehme Tatsache: Unter ihnen gelten Frauen mit einer helleren Hautfarbe als besonders begehrenswert. Dieser innere Rassismus wird von Kiah in den Anmerkungen im Booklet grell illustriert: „Als ich in die Pubertät kam, schlossen sich die Türen meiner weißen Nachbarn auf einmal“, schreibt sie. „Dass eine hellere Haut erstrebenswert sein soll, weil wir dadurch den Weißen ähnlicher sind, stellt eine Verbindung zu innerrassischer Diskriminierung her, die sich bis zur Sklaverei zurückverfolgen lässt – eine negative Konnotation schwarzer Haut war integraler Bestandteil des amerikanischen Rassismus.“ Starker Tobak – aber Songs Of Our Native Daughters ist vor allem ein beeindruckendes Folkalbum, das traditionelle Formate nutzt, um aktuelle Kämpfe zu thematisieren; etwas, was Folkmusik eigentlich immer gemacht hat, aber in der „gemütlichen“ Retrobewegung der amerikanischen Szene, für die Bands wie The Fleet Foxes, The Avett Brothers und The Decemberists stehen, zunehmend in Vergessenheit geraten ist. Dabei ist es besonders bemerkenswert, dass vier schwarze Frauen sich ganz selbstverständlich in diesem eigentlich „weißen“ Genre bewegen – natürlich war Folk nie weiß, sondern wurde von allen Menschen benutzt, aber im Bewusstsein des Publikums ist es dummerweise ein weißes Genre.

Zwischen den Stilen bewegt sich seit Jahren Cassandra Wilson, die ihre Karriere als Jazzsängerin – und zwar als eine äußerst avancierte – begonnen hat. In ihrer Solokarriere entfernte sie sich nach und nach vom Avantgarde-Jazz und fand mit ihren aufregenden Interpretationen von Songs aus Rock, Folk und Country ein riesiges Publikum. Die gebürtig aus Mississippi stammende Sängerin mythologisiert die Südstaaten in ihrer Musik geradezu. Sie hat nicht nur ikonische Songs wie „The Weight“, „Last Train To Clarksville“, „Wichita Lineman“ oder „I’m So Lonesome I Could Cry“ interpretiert, sondern sich für ihr Album Belly Of The Sun vor siebzehn Jahren mit ihren Musikern in einen verlassenen Bahnhof in Clarksdale zurückgezogen, um die sumpfige Southern-Atmosphäre mit allen Fasern aufzunehmen. Auf ihrem vorletzten Album Another Country hat sie nach der Meinung des BBC-Kritikers Daniel Spicer „die Wärme der südlichen Seen und Himmel“ in Musik umgesetzt.

Cassandra Wilson

Auch wenn schwarze Sängerinnen wie Wilson sich des Country-Genres bedienen: Die Country-Musik ist immer noch eindeutig weiß. Aber ihre jüngsten Vertreterinnen wie die gerade durch allerlei Grammys geehrte Kacey Musgraves treten nicht mehr besonders konservativ auf – ganz im Gegenteil. Musgraves letztes Album Golden Hour, für das sie den Grammy für das „Album of the Year“ bekommen hat – wohlgemerkt nicht „Country Album of the Year“ – klingt mehr als zeitgenössisch und man kann sich gut vorstellen, dass aus ihr die nächste Taylor Swift wird. Den Weg geebnet haben der Texanerin Südstaaten-Ikonen wie Trisha Yearwood oder Reba McEntire, die sich vom Genre nie haben eingrenzen lassen. Reba McEntire, die aus Oklahoma stammt, ist neben Dolly Parton die erfolgreichste Country-Sängerin der Geschichte. Mit dem Album My Kind Of Country übernahm sie 1984 die kreative Kontrolle. Das Ergebnis waren zwei Nummer-eins-Singles, die von der Platte stammten, vierzig (!) weitere sollten folgen. Sie hat aber nicht nur weltweit 75 Millionen Tonträger verkauft, sondern vor allem als Schauspielerin Maßstäbe gesetzt – hier wiederum vor allem in der Sitcom Reba – und ist in den USA so bekannt wie bei uns Helene Fischer. Gerade ist ihr 29. Studio-Album Stronger Than The Truth erschienen.

Trisha Yearwood wurde 1964 in Georgia geboren und erlebte ihren Durchbruch 1991 mit „She’s In Love With The Boy“. Sechs Jahre später wurde durch den Hollywood-Reißer Con Air ihr Song „How Do I Live“ zum Welthit. Yearwood steht für Selbstermächtigung und singt über starke Frauen, ihr frühes Vorbild ist Linda Ronstadt. Selbstverständlich wurde auch sie mit Ehrungen und Goldenen Schallplatten überhäuft, zuletzt hat sie mit dem Frank-Sinatra-Album Let’s Be Frank für Furore gesorgt.

Zu den jungen Kräften, die auf der traditionellen Seite des Genres unterwegs sind, zählt Ashley Campbell. Die Blondine aus Arizona ist nicht nur die Tochter der Country-Legende Glen Campbell, sie ist auch eine Banjo-Virtuosin und schreibt hervorragende Songs, wie man auf ihrem Debüt-Album The Lonely One, mit dem sie gleich auf Platz sechs der US-Country-Charts vorpreschte, deutlich hören kann.

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Aktuelle Alben:

Ashley Campbell: The Lonely One (Whistle Stop Records, 2018)

Rhiannon Giddens, There Is No Other (Nonesuch/Warner, 2019)

Rhiannon Giddens/Amythyst Kiah/Leyla McCalla/Allison Russell, Songs Of Our Native Daughters (Smithsonian Folkways, 2019)

Reba McEntire, Stronger Than The Truth (Big Machine Records, 2019)

Kacey Musgraves, Golden Hour (MCA/Universal, 2018)

Mavis Staples, We Get By (Anti-/Indigo, 2019)

Trisha Yearwood, Let’s Be Frank (Gwendolyn Records, 2019)

Cassandra Wilson, Coming Forth By Day (Legacy, 2015)

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