Im Mai 2022 wurde sein erstes Album veröffentlicht. Ali Doğan Gönültaş ist ein Künstler, der in Kiğı in der Provinz Bingol im Osten Anatoliens in eine kurdisch-alevitische Familie geboren wurde. In seinen eigenen Worten „wurde im Alevismus Wissen durch Volkslieder übermittelt, die von Dede, Zakir und Aşik gesungen wurden. Dank ihnen haben Hunderte Jahre alte Volkslieder bis heute überlebt. Aleviten nennen die Tanbur ‚Koran mit Saiten‘. Sie sagen, dass man damit die Bedeutung der vier heiligen Bücher verstehen kann.“ Das Album erhielt den Titel Kiğı und spiegelt zehn Jahre Forschung und künstlerische Reflexion Ali Doğan Gönültaş’ über seine Heimat wider, deren aktuelle kulturelle und ethnische Zusammensetzung weit von dem entfernt ist, was sie vor etwa 150 Jahren war, als die Hauptsprache Armenisch war. Das Album enthält Stücke in Türkisch, Armenisch und mehreren kurdischen Sprachen wie Kurmandschi oder Alis Muttersprache Zazakî.
Text: Araceli Tzigane; Fotos: Promo
Im Juni 2023 wurde das Album in physischer Form veröffentlicht (erhältlich über www.cpl-musicshop.de), ergänzt um ein umfangreicheres Onlinebooklet zum Herunterladen, exklusiv für Menschen, die die CD erwerben. Ali Doğan Gönültaş kann zudem auf eine frühere Laufbahn mit der Gruppe Ze Tîje zurückblicken, die zwei außergewöhnliche Alben produzierte, es jedoch nicht schaffte, über die Grenzen der Türkei hinaus Bekanntheit zu erlangen. Darüber hinaus arbeitete Ali als Filmkomponist, Fernsehmoderator mit musikalischem Schwerpunkt und als Archäologe. Kiğı brachte ihm internationale Anerkennung ein. 2023 war er in Deutschland sehr präsent, mit Konzerten auf Festivals wie dem Rudolstadt-Festival oder dem Horizonte-Festival in Koblenz sowie einer Tour im November inklusive Auftritt in der Hamburger Elbphilharmonie – mit ausverkauften Shows und äußerst positiver Aufnahme durch die Fachpresse. Im Interview stellen wir mit Ali einige Überlegungen an zu seiner Arbeit, der Situation von Minderheitskulturen und seinen Plänen in der näheren Zukunft.
Das Album ist das Ergebnis von zehn Jahren Arbeit, Gesprächen mit alten Menschen, Archivrecherchen und künstlerischer Arbeit an Arrangements. Ich kann mir vorstellen, dass du hast Dutzende interessanter Stücke gefunden hast. Wie hast du die zehn ausgewählt, die auf Kiğı enthalten sind? Und warum gerade diese?
Ja, in der Tat habe ich Dutzende interessanter Lieder gehört, und vielleicht hätte ich mit diesen Liedern fünf oder sechs weitere Kiğı-Alben machen können. Kiğı ist ein wenig bekannter Ort, der die Geografie Anatoliens und Mesopotamiens widerspiegelt. Er ist wie eine Zusammenfassung dieser weiten und reichen Landschaft. Ich habe darüber nachgedacht, wie ich diese Vielfalt in den Köpfen der Menschen zum Leben erwecken könnte. Und ich habe versucht, Lieder auszuwählen, die die musikalische Kultur der verschiedenen Gesellschaften widerspiegeln, die in Kiğı gelebt haben. Ich wollte die soziokulturelle Struktur dieser Region durch die Inhalte der Lieder beschreiben. Tanzlieder, Hochzeitslieder, Arbeitslieder, Wanderlieder, Klagelieder und Glaubenslieder wurden daher für dieses Album in verschiedenen Sprachen aufgenommen. Obwohl es nicht einfach ist, die Musik einer Region zu beschreiben, in der seit vielen Jahren verschiedene Themen, Sprachen und Sensibilitäten existieren, war es einen Versuch wert. Das Album dient von Anfang bis Ende vielen verschiedenen Zwecke. In der ursprünglichsten Form war eines meiner Hauptziele das Erinnern.
Als ich die Texte der Lieder hörte, fielen mir einige gemeinsame Themen mit Liedern traditioneller Musik aus Spanien oder anderen Ländern auf, zum Beispiel Lieder über Verführung oder soziale Ungerechtigkeit. Aber manche Texte sind auch irgendwie mystisch, wie „Yandı Yürek“, das weniger volksliedhaft als symbolisch oder poetisch zu sein scheint. Welchen Hintergrund hat dieses Lied?
„Yandı Yürek“ ist eines der beiden türkischen Lieder auf dem Album. Es ist eines der Beispiele für Lieder mit heiligem Inhalt, die von den Aleviten oder Kizilbasch in der Region gesungen werden. Der Text stammt von Kul Nesîmî, einem der sieben großen alevitischen Dichter. Er war ein großer Poet, der im siebzehnten Jahrhundert lebte. Im Alevismus ist es ein Lied über die Freude, für Gott, die Wahrheit und die Ewigkeit zu leiden. Ein Leiden für die Wahrheit vor tausend Heilmitteln zu bevorzugen! Dieser Schmerz ist der Schmerz der Wahrheit. Und oft kann er nicht in einfacher Sprache ausgedrückt werden. Man braucht eher das Herz als den Verstand, um ihn zu verstehen. Die Herkunft der Musik ist unbekannt. Das Album wäre weit von seiner wahren Bedeutung entfernt, wenn ich mich nicht intensiv mit den Aleviten beschäftigt hätte, die einen großen Teil der Bevölkerung von Kiğı ausmachen.
Du singst in mehreren Sprachen. Deine Muttersprache ist Zazakî, aber du bist mit Türkisch als Alltagssprache aufgewachsen. Wie ist es mit den anderen Sprachen? Welche Rolle spielen sie in deinem Leben? Wie ist die aktuelle Situation all dieser Minderheitensprachen?
Man könnte sagen, dass ich mich in einem mehrsprachigen Universum des Denkens und Fühlens bewege. Zazakî ist zwar meine Muttersprache, aber ich träume auf Türkisch. In Kiğı, wo ich geboren wurde, werden drei verschiedene Sprachen gesprochen: Armenisch, Kurdisch und Türkisch. Zazakî, Kurmandschi und Kirdaski werden als verschiedene Dialekte des Kurdischen auch gesprochen. Es gibt eine intensive Debatte darüber, ob Zazakî eine andere Sprache ist. Ich denke, es wäre besser, wenn Philologen darüber diskutieren würden. Armenisch (Westarmenisch) ist eine Sprache, die heute in Kiğı und Anatolien fast nie gesprochen wird. Wenn man bedenkt, dass Kiğı ursprünglich eine armenische Siedlung war, ist es nicht schwer zu verstehen, wie tragisch diese Situation ist. Obwohl ich Kurmandschi und Kirdaski verstehe, kann ich nicht behaupten, sie zu sprechen. Türkisch ist die Sprache, die ich am besten beherrsche. Als Kind wurde zu Hause Zazakî gesprochen, aber wenn meine Mutter mich auf Zazakî fragte, antwortete ich auf Türkisch. Vielleicht war dies eine Form der Selbstzensur. Kurz gesagt, kann man von Assimilation sprechen. Als persönliche Reaktion darauf habe ich in meinen frühen Zwanzigern meine Muttersprache akademisch gelernt. Später erfuhr ich, dass es nicht mir so ging, sondern dass viele Kurden und Zazas in einer ähnlichen Situation waren. In den Jahren 2023 und 2024 wurden in der Türkei fast zwanzig Musik-, Theater- und Stand-up-Shows, die in kurdischer Sprache produziert wurden, abgesagt. Daran kann man sehen, wie sehr immer noch systematisch Druck auf kurdische, alevitische und andere Identitäten ausgeübt wird. Wir müssen mehr tun, als Mitleid mit dieser Situation zu haben. Zum Beispiel die Wahrheit ansprechen, wie sie ist! Englisch, Türkisch oder Zazakî … – ich spüre, dass die Dynamik der Sprachen und dieses Ausdrucksuniversums dazu führt, dass ich mich noch mehr entwickle. Ich versuche, dieses Leben zu verstehen. Ich wünschte, wir könnten uns ohne Sprache verstehen.
Letztes Jahr warst du mehrmals für Konzerte in Deutschland. Was denkst du über das deutsche Publikum?
Das Interesse an meiner Musik in Deutschland bedeutet mir viel. Es gibt dort eine große kurdische und türkische Gemeinschaft, und es ist einfacher, Musik in Deutschland zu machen als in anderen europäischen Ländern. Ich habe Glück, dass ich auf Festivals wie in Rudolstadt, dem Festival Horizonte in Koblenz und im letzten November eine Zehn-Konzert-Tournee in Norddeutschland spielen konnte. Ich war wirklich glücklich über das Interesse und die Aufmerksamkeit des deutschen Publikums. Ich hoffe, wir werden uns öfter treffen.
Du hast noch in weiteren Ländern mit großen kurdischen und türkischen Gemeinschaften gespielt, aber auch in anderen wie Spanien oder Portugal, in denen es fast keine gibt. Wie reagiert man dort auf deine Musik?
Konzerte in Ländern mit tief verwurzelten Musikkulturen wie Spanien und Portugal haben einen unvergesslichen Eindruck bei mir hinterlassen. Es ist ein wenig klischeehaft, aber ich liebe die Wirkung von Musik, die Grenzen überschreitet, sie ist transzendental. Wir haben bisher vier- oder fünfmal in Spanien gespielt, und jedes Mal sind wir mit großen Emotionen wieder gegangen. Es ist schwer zu beschreiben. Das Publikum in Spanien und Katalonien war sehr aufmerksam und teilnehmend. In Lissabon haben wir ein Traumkonzert gespielt. Wir haben uns mit 1.200 Menschen in einer großartigen Atmosphäre getroffen. Ich bekomme immer noch Rückmeldungen zu dem Konzert. Ich hoffe, wir werden Portugal bald wieder besuchen.
Was sind deine Pläne für die nahe Zukunft?
Ich habe ein neues Album vor mir, das ich noch dieses Frühjahr veröffentlichen möchte. Wir nehmen es gleichzeitig in Video- und Audioform auf. Auch hier ziele ich auf Lieder über meine innere Reise ab. Mal sehen, was passieren wird. Ansonsten werden wir auch 2024 viele Konzerte in Europa und der Türkei spielen. Wir sehen uns irgendwo. Bis bald.
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