Über eine Sache habe ich in dieser Kolumne noch gar nicht gesprochen. Neben der Honky Tonk Post betreibe ich noch einen Newsletter und dazu einen Podcast, in dem ich über Geschichte spreche. Ganz besonders gern über Geschichtsmythen … Ich glaube nämlich, dass wir viele Entwicklungen und weitverbreitete Meinungen unserer Zeit nur verstehen können, wenn wir das ihnen zugrundeliegende Geschichtsbild kennen. Oder eben das, was aus der Geschichte gemacht wird: den Mythos.
Text: Ralf Grabuschnig
Eine Frage stellt sich dabei aber immer: Wie können solche Mythen überhaupt so lange überleben? Es ist doch schließlich nicht so, dass wir sie im Nordkorea-Style täglich in den Hals gestopft bekommen würden … Eine Antwort darauf ist: Kultur.
Künstler und Künstlerinnen greifen (wie wir alle) in ihrem Werk immer wieder auf etablierte Mythen zurück und tragen sie damit weiter. Ein konkretes Beispiel dafür möchte ich heute besprechen: und zwar selbstverständlich die Countrymusik. Und wie diese Musik immer wieder amerikanische Geschichtsmythen mit neuem Leben erfüllt.
Als Erstes muss man da feststellen: In den USA gibt es eine ganze Menge an mächtigen Geschichtsmythen. Daher möchte ich dieses Thema in Form eines Zweiteilers angehen und heute über den ersten ganz zentralen Mythos der Vereinigten Staaten reden: die Expansion nach Westen und, damit verbunden, den Mythos des unabhängigen Pioniers, der loszieht, um sein Glück zu suchen. Nächsten Monat wird es dann aber düsterer. Da schaue ich mir die routinemäßige Verklärung des Bürgerkriegs und der Sklaverei auch in der Countrymusik an …
Okay. Die Expansion der USA in Richtung Pazifik. Damit hängt in der Selbstwahrnehmung vieler Leute in den Vereinigten Staaten schon mal ganz viel zusammen. Diese Massenbewegung des 19. Jahrhunderts in Richtung Westen nahm mit der Zeit nämlich ziemlich religiöse Züge an. Sie ist die Erfüllung der sogenannten Manifest Destiny. Dem Erbrecht jedes amerikanischen Mannes, sich und seine Werte über den gesamten Kontinent auszubreiten. „From Sea to shining Sea“, wie es hieß.
Unter diesem Dach der Manifest Destiny entstand gleich eine ganze Reihe an Wertvorstellungen der USA:
- selbstbestimmte Unabhängigkeit im Wilden Westen,
- raue Männlichkeit,
- Misstrauen gegen zentrale Autoritäten,
- Pioniergeist
- der Glaube an ewigen Fortschritt und den American Dream
Musik ist dabei aber natürlich nicht das erste Medium, dass einem mit Blick auf die Verklärung dieser Zeit wohl einfällt. Da wären schon erst mal Westernbücher und Filme zu nennen. Aber eben auch Musik und ganz speziell Country haben dazu beigetragen, dass die Idee des Wilden Westens – der „Frontier“ – noch immer so lebendig ist. Um da gleich einen Klassiker zu nennen:
Marty Robbins – „Big Iron“ (1959)
Marty Robbins – Gunfighter Ballads and Trail Songs. © 1959 Columbia Records
Der Song erzählt wie viele andere eine ganz typische Westerngeschichte. Ein Cowboy zieht in eine Grenzstadt im Süden, um dort einen Outlaw zu stellen. Er konfrontiert ihn und tötet den Banditen schließlich mit seiner Pistole – dem namensgebenden „Big Iron“. Und damit ist der alte Mythos schon erzählt: Ein Einzelgänger verübt Selbstjustiz in einem Raum fernab staatlicher Autorität. Heute begegnen wir ihm noch als dem „Good Guy with a Gun“.
The Steel Woods – „Straw In The Wind“ (2017)
The Steel Woods – Straw In The Wind. © 2017 Woods Music
Ein deutlich jüngeres Beispiel zeigt, dass all das aber auch im 21. Jahrhundert noch mehr als lebendig ist. In „Straw In The Wind“ geht es um eine isolierte amerikanische Siedlung – man kann annehmen: irgendwo in der Prärie. Und erneut dreht sich alles um Selbstjustiz. Der Song erzählt davon, was passiert, wenn in dieser Gegend Fremde mit bösen Absichten auftauchen … Sie verschwinden gerne mal. Like straw in the wind.
The Highwaymen – „Highwayman“ (1985)
Solche Westernideale führen ihr Leben aber auch schon lange außerhalb von tatsächlichen Westerngeschichten weiter. Schauen wir uns dafür die Legenden von The Highwaymen an. Eine Supergroup bestehend aus keinen anderen als Johnny Cash, Waylon Jennings, Willie Nelson und Kris Kristofferson. In ihrem Klassiker „Highwayman“ nimmt jeder von ihnen eine Identität an. Der erste ist Räuber, der nächste ein Arbeiter in der Westexpansion, der letzte gar ein Astronaut. Ein Pionier des Weltraums. Sie alle symbolisieren dabei den amerikanischen Geist.
Brooks & Dunn – „Only In America“ (2001)
Das fertige Bild aus all dem liefern uns dann unter anderem die Legenden von Brooks & Dunn. Aus dem Selfmademan der Frontier wird bei ihnen der amerikanische Traum. Die Idee, dass jeder es schaffen kann, wenn er es nur versucht – wie die Pioniere vor ihm. Dass dieses Bild so nie zugetroffen hat – schon mal gar nicht für nicht weiße Nicht-Männer – und heute weniger zutrifft denn je … na ja, geschenkt.
Wirkmächtig ist es in der öffentlichen Debatte in den USA nach wie vor, und es erklärt auch so einige für uns in Europa oft unverständliche Entwicklungen dort drüben. Und bis hierhin würde ich auch sagen: Ja, das sind alles Mythen, keine Fakten. Und ja, sie können teilweise auch schädlich sein. Aber doch war das heute nur die Aufwärmrunde. Denn bei einem Thema der Geschichte hat Countrymusik womöglich am meisten Dreck am Stecken: dem Umgang mit dem Bürgerkrieg und der Sklaverei.
Darum wird es also nächsten Monat im zweiten Teil dieses Specials gehen.
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