Vor 46 Jahren starb Sandy Denny im Alter von 31 an den Folgen eines Treppensturzes. Zu bislang unvertonten Gedichten der britischen Folkikone hat die Freiburger Musikerin Carla Fuchs neue Lieder entworfen. Ihr Album Songbird spiegelt die Geschichte einer unglaublichen Wiederentdeckung – und einer tiefen Verbindung dreier Frauen über die Zeiten hinweg.
Text: Stefan Franzen
„Ich hatte Mühe, noch auf die Straße zu schauen – sie hat mein Herz so berührt, wie noch nie eine Sängerin zuvor!“ Man glaubt neben ihr im Auto zu sitzen, so lebendig erzählt Carla Fuchs von der legendären Fahrt, während der sie durch Zufall eine Live-CD von Sandy Denny entdeckte, die seit Jahren im Handschuhfach herumgelegen hatte. Es war der Denny-Song „Nothing More“, der sie derart flashte, dass sich danach ihr Leben änderte.
Wer ist Carla Fuchs? So leicht lässt sich das gar nicht beantworten. Sie ist Musikwissenschaftlerin, Pädagogin mit Lehrauftrag am Institut für Musik der Pädagogischen Hochschule Freiburg, Sängerin, Pianistin, Gitarristin, Lyrikerin, Filmemacherin, Malerin – aufgewachsen in Freiburg, dort und in Trossingen heute arbeitend. Und: eine unermüdlich Suchende, multidisziplinär um künstlerischen Ausdruck Ringende, mit einem musikalischen Horizont von Franz Schubert über Laura Nyro bis zu elektronischen Klangexperimenten.
Welchen Platz haben da ausgerechnet die Folksongs von Sandy Denny? „Sandy schafft es, mit einer ganz eigentümlichen Melancholie eine Tiefenwirkung in ihre Bilderwelten hineinzuentfalten, ganz ohne kitschig zu sein“, sinniert Fuchs über die Texte. Und auch Dennys Musik bietet ihr eine Fülle an Entdeckungen. „Die offenen Stimmungen auf der Gitarre faszinieren mich, auch, wie sie auf ganz unterschiedliche Arten Akkorde am Klavier setzt, je nachdem, was sie gerade sagen will. Es gibt immer eine ungeheure Wechselwirkung zwischen Musik und Text.“
Während der Pandemie öffnet Fuchs einen Youtube-Kanal, lädt ihre Lesarten etlicher Sandy-Denny-Songs hoch. Wichtig ist ihr, die Originale nicht hundertprozentig nachzuspielen, sondern ihnen einen eigenen Charakter zu geben. „Eines Tages stand ein Kommentar drunter: ‚Großartig, gefällt mir wahnsinnig gut, wow!‘ Ich dachte erst, ich hätte mich verguckt!“ Denn besagte Kommentatorin ist Georgia Rose Lucas, Dennys in Australien lebende Tochter, die ihre Mutter im Alter von neun Monaten verlor.
Die beiden vereinbaren einen Videocall und werden sofort dicke Freundinnen. Irgendwann fasst sich Fuchs ein Herz: Sie schickt Lucas einen selbst komponierten Song zu einem Gedicht der Mutter. Es war bereits von der Sängerin Thea Gilmore 2011 für das Denny-Tribute-Album Don’t Stop Singing in folkpoppiger Art aufgegriffen worden. Bei Fuchs allerdings weht der Geist Dennys viel kräftiger durch Gesang, Harmonien und Dramaturgie – weshalb wohl Georgia Lucas auch hin und weg ist. „Und dann sagte sie: ‚Es gibt noch viel mehr unvertonte Gedichte. Hast du nicht Lust, ein Album zu machen?‘“
„Sie hat mein Herz so berührt, wie noch nie eine Sängerin zuvor.“
Fuchs stürzt sich akribisch in die „Urtext“-Arbeit. Sie sortiert und studiert den wilden Wust der Autografe von Sandy Denny, kriecht geradezu in die Psyche der Sängerin, will Streichungen und Umgruppierungen der Strophen verstehen. Während der Aufnahme der Coversongs hatte sie – typisch Musikwissenschaftlerin – Dennys Tonsprache, ihre bevorzugten Harmonieprogressionen, Voicings und Intervalle bereits analysiert. Und schließlich fügt sich alles zum Zyklus „Songbird“. „Häufig gab es ‚Patensongs‘“, erklärt Fuchs. „Ich schaute mir ein Gedicht an, und plötzlich sprach ein Song zu mir, den es schon gab. Dann habe ich versucht, die Farben, die ich in den Worten hörte, in Klang zu verwandeln, mit Sandys Vorlieben für Melodie- und Harmonieverläufe. Aber ich bin dann immer ein bisschen um die Ecke gebogen. Es ist schon so Sandy-esk, dass man sich vorstellen kann, dass sie auch meine Variante in Erwägung gezogen hätte. Aber letztendlich ist es dann doch Carla Fuchs.“
Und hier beginnt für Sandy-Denny-Fans beim Hören eine faszinierende Spurensuche. Das dramatische „Sixpence“ hat Anklänge an das Original von „Next Time Around“, „Go West“ und „Half Way Home“ lassen mit dem Western-String-Sound, den Fuchs auf einer neunsaitigen Gitarre aus Tschechien eingespielt hat, an „The Sea“ denken. Das sagenhaft melancholische „Winter Elms“ flirrt irgendwo zwischen „Fotheringay“ und „Winter Winds“ hin und her, und im Auftakt zu „If You Are Free“ blitzt „Solo“ auf, entfleucht dann aber in ganz andere Gefilde.
Carla Fuchs hat das Album fast im Alleingang aufgenommen und produziert, neben ihrer Stimme – die stellenweise der Phrasierung von Denny folgt, oft aber eigenwilliger ist –, Klavier und Gitarre, hört man lyrische Klarinetteninterludien und auch mal ein punktgenaues Pedal-Steel-Solo des Kollegen Niels Kaiser. Mit Talking Elephant, dem Reissue-Label für zum Beispiel Fairport Convention oder Wishbone Ash, konnte Songbird ein passendes Zuhause finden.
Mit der Albumveröffentlichung war das Projekt allerdings nicht abgeschlossen. Letztes Jahr traf sich Fuchs mit Lucas in England, um im legendären Pub The Brasenose Arms in Cropredy, Oxfordshire, eine liebevoll kuratierte Sandy-Denny-Ausstellung zu zeigen und dazu zu spielen. Abseits der Hauptbühne des Cropredy-Festivals allerdings, wo sich alljährlich die aktuelle Besetzung von Dennys ehemaliger Band Fairport Convention trifft. Doch Fuchs und Lucas blicken mit gemischten Gefühlen zurück. „Unsere Ausstellung und mein Auftritt haben nicht die Unterstützung bekommen, die wir uns erhofft hatten. Georgia ist auch nicht zum Finale auf die große Bühne geholt worden. Wir sind nicht schlau geworden aus der Sache.“ Stellt sich die bittere Frage, ob sich auch im Folkbereich seit den Siebzigern wenig an der Position von Frauen im Musikbusiness geändert hat.
Die beiden Frauen ließen die Englandtour auf ihre Weise ausklingen. In London machten sie die erste Gibson-Gitarre Sandy Dennys ausfindig, die einen abenteuerlichen Weg zwischen London und Südamerika hinter sich hatte. „Ich werde nie vergessen, wie ich diese Gitarre in einer kleinen Wohnung aus dem Koffer geholt, über die Saiten gestrichen habe und alles noch einigermaßen in tune war – nach fünfzig Jahren!“, berichtet Carla Fuchs. „Ich habe dann zu den originalen Homedemos Sandys mitgespielt, auf denen ebendieses Instrument zu hören ist, Georgia saß daneben. Was das für ein Gefühl war, kann ich nicht in Worte fassen. Es war, als würde Sandy mit uns im Raum sitzen.“
Die Gibson nahmen die beiden dann mit zu Dennys Grab. Saßen dort, spielten ihre Songs, über Stunden, im Regen, im Sonnenschein. Und hier, an der Ruhestätte ihrer Mutter lernte Georgia die Akkorde von „Who Knows Where The Time Goes“. Eine berührendere Würdigung lässt sich kaum denken.
Alben:
Songbird (Talking Elephant, 2023)
Aufmacherbild:
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