Sucht man in Baden-Württemberg nach Plätzen, an denen kulturell „was los“ ist, stößt man schnell auf die Rätsche. Deren Standort Geislingen an der Steige ist nicht immer für seine künstlerische Szene berühmt gewesen, sondern eher für die Produktion von Metallwaren durch die Firma WMF, die auf die Entdeckung des hiesigen Eisenflözes während der Industrialisierung zurückgeht. Doch innerhalb der letzten vierzig Jahre hat die Stadt an kultureller Bedeutung enorm zugelegt, und dafür ist stark die Rätsche mitverantwortlich.
Text: Imke Staats, Fotos: Walter Schaefer
Diese Bühne ist, unabhängig von ihren drei bisherigen Standorten, zu einer Institution geworden – für Musik, Kabarett, Disco, Kino, Lesungen oder öffentliche Treffen, zum Beispiel politischer Natur. Hier gastierten neben vielen anderen Sissi Perlinger, Nikki Sudden, The Go-Betweens, The Walkabouts, Giant Sand, Piirpauke, The Sands Family oder Andy Irvine, Politiker wie Lothar Späth und Gregor Gysi sprachen hier. Das Haus ist außerdem die Basis verschiedener Bürgerinitiativen.
Angefangen hat alles in den ausgehenden Siebzigern, ganz klein, etwas widerständig und mit sehr viel Eigeninitiative überzeugter Bürgerinnen und Bürger. Überzeugt davon, dass es im konservativen Geislingen auch Angebote für junge Menschen mit alternativen Lebensideen geben sollte. Dazu zählten im damaligen Milieu „Langhaarige“, „Friedensbewegte“ und wie immer: Menschen, die Interesse an anderen Musikstilen hatten, also Pop, Rock, Jazz und Folk hören wollten und ihre politischen Ansichten durch bestimmte Kulturwerke vertreten sahen.
„Von Kultur hatte ich eigentlich keine Ahnung.“
Zunächst wurde dafür der „Tag der Jugend“ eingerichtet, eine jährliche Veranstaltung, zu der auch Auftrittsmöglichkeiten für Bands gehörten. Dieselben Leute gründeten den Arbeitskreis Kultur und machten ihn 1978 zum Verein. In der leer stehenden alten Seemühle, auch Rätschenmühle genannt, fanden sie am Fluss Rohrach ihr erstes Domizil. Mit viel ehrenamtlicher Arbeit, einem hart erkämpften Kredit und unter den argwöhnischen Blicken der Stadtvertreter wurde das alte Gebäude in einen Klub mit rund 150 Plätzen ausgebaut. Schon beim Debütkonzert am 28. November 1980 zeigten Kamac Pacha Inti aus Chile mit ihrer „música andina“, dass hier nicht nur lokale Bands auftreten werden. Es folgten Folkies aus der ganzen Welt, besonders aus Irland und Schottland.
Ein Urgestein aus dieser frühen Phase ist Brigitte Aurbach, die 1982 nach Geislingen gezogen war, wo sie bei WMF arbeitete. Ehrenamtlich leistete sie Tresendienst in der Rätsche, „um nette Leute kennenzulernen“. „Von Kultur hatte ich eigentlich keine Ahnung“, sagt sie. Das war auch gar nicht notwendig, da sie sich zugewandt, engagiert und organisiert in die Materie einfand. Seit 1984 ist sie Teil des Vorstands, seit zehn Jahren Vereinsvorsitzende.
Seit jeher hat die Rätsche neben kulturellen auch politischen Interessen Raum gegeben. Am 22. Oktober 1983 führte die Menschenkette gegen die Stationierung von Atomwaffen von Ulm nach Stuttgart direkt hier vorbei, was zur öffentlichen Wahrnehmung beitrug.
Das Haus wurde schnell bei Rockmusikschaffenden, Singer/Songwriter:innen und ab Ende der Achtziger auch Indiekünstlern und -künstlerinnen aus der ganzen Welt beliebt, trotz knapper Ausstattung und minimalem Komfort. Der gefragte Veranstaltungsort wurde bald zu klein, so zog man 1998 in den umgebauten Schlachthof, der mehr als doppelt so viele Gäste fasste, und auch die Technik wurde professioneller. In den Neunzigern war das das Programm stark von Kabarettstars oder Talkabenden geprägt, und ein immer größeres Publikum fühlte sich angezogen. 2002 eröffnete dazu ein Biergarten, in dem im Sommer seitdem auch Open-Air-Veranstaltungen angeboten werden. Pro Jahr kommt man auf achtzig bis neunzig Events.
Zusätzlich zum internationalen Veranstaltungsbetrieb folgte man dem Wunsch der Menschen aus der Region, Kultur auch selbst zu gestalten. Interessengruppen aus fast allen Sparten treffen sich regelmäßig, die kulturellen haben Auftrittsmöglichkeiten im Haus – so gibt es allein aus dem Bereich Musik unter anderem den Rätsche-Chor, eine Trommelgruppe, die JazzOpen-Sessions und hauseigene Musicalproduktionen.
Durch die Coronazeit konnte sich die Rätsche erhalten, indem Cheftechniker Oli Kumer bereits am Anfang des ersten Lockdowns Livestreams mit lokalen Kulturschaffenden realisierte. Die Rätsche zahlte eine kleine Gage, und dazu erhielten die Auftretenden Spenden aus dem Publikum, was sehr gut funktionierte. Im zweiten Lockdown wurden Gelder aus dem Neustart-Kultur-Programm an die Performenden verteilt. Durch die länger und weiterhin verfügbaren Streams und den Austausch von Feedback blieb man lebendig, es gab gute Presse und die Vereinsmitglieder blieben. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass das meiste hier durch ehrenamtliches Engagement passiert. Mehr als 630 Stunden seien es im letzten Jahr gewesen, sagt Brigitte Aurbach.
Bei lieb gewordenen Traditionen lebendig zu bleiben ist auf jeden Fall ein Anspruch, den die Rätsche immer zu verfolgen scheint. Im laufenden Jahr werden unter anderem Christoph Weiherer und Lisa Canny herkommen, außerdem soll das Programm um eine Open-Stage-Reihe erweitert werden.
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