Herman van Veen

Neugier auf das Leben

18. September 2025

Lesezeit: 5 Minute(n)

Seit sechzig Jahren erhebt der Ausnahmekünstler auf den Bühnen der Welt seine Stimme mit viel Humor für Frieden, den Schutz von Kinderrechten und gegen gesellschaftliche Ausgrenzung. Mit seinem aktuellen Programm „Achtzig“ nimmt der niederländische Liedermacher nicht nur sein Alter humorvoll aufs Korn. Er mahnt auch zu mehr Reflexion und einem respektvollen Miteinander. Mit dem folker sprach Herman van Veen darüber, warum in den Schulen mehr Geschichte unterrichtet werden sollte, der Alltag mehr Poesie braucht und er nicht ans Aufhören denkt. 

Interview: Erik Prochnow; Fotos: Michaela Markovicova

Herr van Veen, fällt es Ihnen angesichts der aktuellen unruhigen Weltlage leicht, auf die Bühne zu gehen und die Menschen zum Lachen zu bringen?

Nein, es ist überhaupt nicht einfach. Wir leben in einer unwahrscheinlich verwirrenden Welt. Um sie zu verstehen, müssten wir eigentlich schneller langsam machen. Wir müssten einen Schritt zurücktreten, um uns Zeit zu nehmen zu reflektieren, warum es etwa sinnlos ist, über Nuklearwaffen zu diskutieren. Aber mit den neuen Medien ist das schwierig. 

Warum?

Weil aus meiner Sicht als Musiker die Kluft zwischen Realität und Digitalität immer größer wird. Es wird immer schwerer zu erkennen, was wirklich stattfindet und was nicht. Die Wirklichkeit sieht zunehmend wie ein Computerspiel aus und umgekehrt ein Computerspiel wie die Wirklichkeit. Und die Entwicklung verläuft etwa durch künstliche Intelligenz rasend schnell. Ablenkung und Manipulation können dadurch immer mehr Raum einnehmen. Denken Sie nur an den Sturm auf das Kapitol, das US-Parlament in Washington D. C. Die Beteiligten sind frei. Vor allem für junge Menschen ist das verwirrend.

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Wie ließe sich das aus Ihrer Sicht aufhalten?

Ein wichtiger Schritt ist Bildung, das Recht der Kinder, lernen zu dürfen. In der Schule sollte vor allem wieder mehr Zeit auf das Fach Geschichte verwendet werden. Denn wie soll man aktuelle Ereignisse einordnen können, wenn man die historischen Entwicklungen nicht kennt? Wenn man etwa in Nordfrankreich oder Westflandern kilometerlang Friedhof an Friedhof mit den Toten der beiden Weltkriege sieht, versteht man, dass es ein großes Missverständnis ist, mit Waffen und Ausgrenzung Frieden erlangen zu wollen. Deshalb müssen sich die politische Mitte, Wissenschaftler und auch Künstler zusammentun, um mit Wissen zu verhindern, dass die Extremisten auf beiden Seiten des Spektrums stark werden. 

Was können Sie da als Musiker tun? 

Auch ich habe keine Lösungen, aber ich kann die Dinge ansprechen, etwa wenn ich singe „Gib den Kriegskindern einen Namen – nenn sie wie Deine Tochter“. Ich habe es nie vermieden, politische Themen in unser Konzertprogramm zu integrieren. Ich äußere mich allerdings nicht als Kabarettist oder Stand-up-Comedian. Mir geht es nicht darum, das Publikum schnell mit einem Witz zu gewinnen. Meine Intention ist es, mit dem Aufwerfen von Fragen zu inspirieren, um gemeinsam Lösungen für die Herausforderungen zu finden, die uns alle betreffen. Da ist immer auch die Aufforderung, nicht zu schweigen, die eigene Stimme zu erheben in der Familie, unter Freunden oder in der Nachbarschaft. Als wir Mitte der Achtziger viel in der DDR auftraten, wurde ich von Journalisten gefragt, warum ich dort spiele. Ich habe geantwortet, dass ich eingeladen wurde und gekommen sei, um einen Stein aus der Mauer zu singen. Nach einiger Zeit durften wir dann nicht mehr auftreten, weil der Regierung unsere Lieder nicht gefallen haben. Nach dem Mauerfall 1989 kam dann ein Mann aus Leipzig mit dem Fahrrad nach Holland und hat mir einen Stein aus der Mauer gebracht.

„Das Lernen hört nie auf.“

Die Welt verändern durch ein Lied?

Zumindest einen Anstoß dazu geben und zu zeigen, worum sich das Leben eigentlich drehen sollte – um Musik, Poesie, Sprache und Liebe. In den Zeitungen, in der Tagesschau oder dem Supermarkt finden wir keine Gedichte. Aber der Supermarkt kann poetisch sein. Etwa wenn der Käse zur Milch sagt: „Ich habe deine Mutter noch gekannt.“ Das sagt sehr viel aus über uns und unsere Beziehungen, und darum sollte sich das Leben drehen. Damit wir aber in wirklichen Beziehungen leben können, braucht es im Alltag eine gute Schule, eine umfassende Gesundheitsvorsorge, eine ausgewogene Ernährung und Kinderrechte, für die ich mich seit Jahrzehnten stark mache. 

Sie stehen seit sechzig Jahren auf der Bühne. Was haben sie gelernt? 

Das Lernen hört nie auf. Mit dem Älterwerden versteht man die Vergangenheit anders. Vieles, das nicht klar schien, wird immer klarer. Damit wächst auch meine Neugier. Ich will wissen, was auf der nächsten Seite steht. Ich fühle mich wie ein Jüngling mit viel Erfahrung. Zudem bin ich Realist, der keine Angst vor der Zukunft hat. In der langen Zeit meiner Karriere habe ich erlebt, dass sich sehr viel im Gleichen verändert. Das Olympia in Paris zum Beispiel, in dem Jacques Brel, Gilbert Bécaud oder Charles Aznavour ihre großen Erfolge feierten, war ein Traum jedes Musikers. Heute ist es ein Paradies für Hip-Hopper. Außerdem glaube ich an die Biologie.

Edith Leerkes

 

Was heißt das?

Die einen glauben an Gott, die anderen an das System. Für mich ist das Entscheidende die Biologie. Die Natur ist unser größter Lehrer. Sie sagt uns, dass man keine Angst haben sollte. Vielmehr sollten wir aufmerksam sein. Schließlich ist das Leben Veränderung und ein ständiges Probieren. Wir gehen in eine Richtung, machen eine Erfahrung und daraus ergibt sich der nächste Schritt. In der Natur hat alles seine Funktion. Die Farbe Rot etwa steht für Gefahr. Das gilt auch für die Clownsnase. Sie besagt: „Aufgepasst, ich bin gefährlich, ich bin witzig.“ Allerdings müssen wir diesen Bezug zur Natur, ohne die es kein Leben gibt, erst wieder lernen. 

Wie kann das gelingen? 

Ich habe nicht nur viel Land gekauft, um es zu bewahren. Zusammen mit meiner Gitarristin Edith Leerkes habe ich zudem das Herman van Veen Arts Center im niederländischen Soest gegründet. Dort veranstalten wir Kurse, in denen die Teilnehmer mit Ohren und Augen die Natur erkunden. Unter dem Titel „Der Nase nach“ lernen die Menschen, dass die Nase sowohl ein Warnorgan als auch ein Erinnerungsorgan ist, welche Wirkungen bestimmte Pflanzen haben, und dass etwa die Farbe Gelb einer Pflanze dazu dient, Bienen anzulocken. 

Ein guter Bezug zur Natur bedeutet auch, auf den eigenen Körper zu achten. Wie halten Sie beide sich nach all den Jahren so fit? 

Für mich bedeutet das „spielen, spielen, spielen“. Ich liebe es, zu schreiben, Texte in Musik umzusetzen und die Erfahrungen mit dem Publikum zu teilen. Meine Ängste, Hoffnungen zu kommunizieren und zu zeigen, dass es nicht schlimm ist, etwas nicht zu verstehen. Und wenn ich etwas verstehen möchte, muss ich mir die Natur anschauen. Da wird alles erklärt, etwa dass ein Baum in eine bestimmte Richtung wächst, weil er nach Licht strebt. Klar sind auch Ruhe, gutes Essen und Bewegung wichtig. Aber die Neugier auf das Leben ist für mich entscheidend. Außerdem reise ich gerne und liebe es, Menschen wiederzusehen. Das hält mich fit. 

Ist die Neugier auch die Quelle für Ihre unerschöpflich scheinende Kreativität? 

Sie trägt dazu bei. Wichtig ist aber auch, dass ich die Dinge um mich herum als Wesen betrachte. Eine Geige ist nicht einfach ein Instrument aus Holz. Man spielt auf einer Geschichte. Manche Menschen finden es befremdlich, dass ich mit den Dingen plaudere. „Hallo Tisch, ist es nicht schade, dass Du Dich nicht hinsetzen kannst?“ Ich kann aber auch still sein, und dann passiert etwas. Genauso bin ich aufmerksam für die Menschen um mich herum. Zum Beispiel kann ich doch nicht an der Pförtnerin einfach vorbeigehen ohne sie zu fragen, wie es ihr geht. 

Ihr aktuelles Programm heißt „Achtzig“, nach dem Alter, das Sie in diesem Jahr erreicht haben. Denken Sie überhaupt ans Aufhören? 

Nein, daran verschwende ich keinen Gedanken. Wir lieben es, neue Projekte zu machen. Gerade mixen wir ein neues Livealbum, dass wir im Herbst veröffentlichen werden, und wir planen ein Album mit Duetten. Immer wieder werden wir zwar gefragt: „Ihr spielt noch?“ Ich sage dann immer: „Entschuldigung, wir haben gerade angefangen und man hört doch erst auf seinem Höhepunkt auf.“ 

www.hermanvanveen.com

Aktuelles Album:

Herman van Veen & Edith Leerkes, Live in Lingen (Harlekijn, VÖ: Herbst 2025)

Aufmacherbild:

Herman van Veen

2 Kommentare

  1. Es ist nicht geplant, dass der Folker wie die TagesTAZ nur noch online zu haben sind, schreibst du, Mike Kamp, im Editorial 3/25.:Ich lese dann mit Interesse das Interview mit Herman Van Veen und finde am Ende den kleinen Hinweis: die längere Fassung findet sich auf Folker.World. – Wie ich das hasse! Wenn schon Print, dann bitte vollständig.
    Ich suche das Tablet. Vielleicht lädt es gerade. Dann den Ort, dann den Beitrag, um das zu lesen, was ich eben schon gelesen habe. Oder wie finde ich die Sätze, die für die Printausgabe gelöscht wurden? Was soll das? Bleibt zurück, der Ärger. Nicht das Interview. Schade.

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    • Sehr geehrte Frau Leipelt,
      es tut uns Leid, wenn wir Sie verärgert haben. Aber das ist nicht unsere Absicht. Wir tun alles, damit wir weiterhin als Print erscheinen können. Das heißt aber auch, dass unter den momentanen Preisen für Druck und Papier, die steigen, wir nur ein begrenztes Platzangebot haben. Um daher ein möglichst vielfältiges Magazin zu präsentieren, müssen wir einige Artikel kürzen. Online haben wir dann die Möglichkeit für eine lange Version. Ihr Hinweis ist allerdings sehr wertvoll. Denn Sie haben Recht, die gekürzten Stellen sind nicht erkennbar, was dann beim Lesen verständlicherweise zu Frust führen kann. Wir nehmen Ihre Anmerkung mit in die nächste Redaktionssitzung, um eine Lösung dafür zu finden, die wir hoffentlich bereits im nächsten Heft umsetzen können. Zum Beispiel könnte man den Hinweis auf die Online-Version gleich zu Beginn des Artikels bringen. Vielen Dank für Ihren wichtigen Beitrag. Herzlichen Gruß, die Redaktion

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