Jenseits des Klischees

Tanzhaus, Folk und sorbische Identität

30. Juni 2023

Lesezeit: 6 Minute(n)

Kunstvoll verzierte Ostereier und die malerischen Trachten der Spreewälderinnen prägen das Image der Sorben. Musikalisch dominieren Chöre und Folkloreensembles die Bühnen und Bildschirme. Gibt es in der Lausitz auch Folk? Wer baut heute sorbische Dudelsäcke? Und hilft Singen gegen das Sterben einer Sprache? Wolfgang Leyn sprach mit dem sorbischen Musiker und Musikredakteur Gregor Kliem.
Text: Wolfgang Leyn

2014 hat Gregor Kliem in Leipzig die Folkband Serbska Reja mitgegründet. Er ist zweisprachig – niedersorbisch und deutsch – aufgewachsen in Dissen/Dešno bei Cottbus/Chóśebuz. Mit vier Jahren bekam er am Konservatorium Instrumentalunterricht. Heute spielt er unter anderem Nyckelharpa und Geige. Seit zehn Jahren arbeitet er in Cottbus im niedersorbischen Programm des RBB, ist dort seit 2020 Kultur- und Musikredakteur. Studiert hat er in Leipzig, Ljubljana und Halle Musikwissenschaft und Musikethnologie. Er hat zwei Kinder, mit denen er sorbisch spricht und singt.

Sorbisch tanzen

Serbska reja heißt auf Deutsch „sorbischer Tanz“. Von Anfang an musiziert die Band für Menschen, die tanzen wollen – im Künstleratelier, beim Stadtfest, in der Scheune von Kliems Heimatdorf, beim Leipziger Tanzhausfest, beim KlangRauschTreffen in Hösseringen, bei Folklorefestivals in der Lausitz, in Polen, Tschechien, Rumänien. Was der Band seit langem vorschwebt, ist ein sorbisches Tanzhaus. Im September 2023 soll das Projekt in Cottbus endlich Wirklichkeit werden. Der Name bezieht sich auf das ungarische Vorbild, so wie 1982 das Ostberliner Mitmach-Volkstanzprojekt JAMS-Tanzhaus und seit 1986 das Tanzhausfest in Leipzig. Zu den bevorzugten Quellen der Gruppe Serbska Reja zählt das Kralsche Geigenspielbuch von 1790. Drei Bandmitglieder beteiligten sich Ende März in Bautzen/Budyšín am Workshop des Sorbischen Nationalensembles, bei dem Melodien aus dieser ältesten sorbischen Notenhandschrift zum Klingen gebracht wurden.
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Türöffner zum Folk

Von der DDR-Folkszene hat Gregor Kliem, Abiturjahrgang 2009, nichts mehr mitbekommen. Auch die Folkrockband Die Folksamen, die er 2008 zusammen mit ein paar Mitschülern am Niedersorbischen Gymnasium in Cottbus gründete, fand ihre Vorbilder eher in Irland, bei Mittelaltermusik oder Punk.

Was DDR-Folk betrifft, gab es nur Begegnungen mit Figuren aus dieser Szene. So haben wir im Studio von Matthias „Kies“ Kießling mal einen Song aufgenommen. Was mir die Tür zum Folk geöffnet hat, war sein Éist-Projekt. Jahrelang hat er ja irische Musik gemacht mit Eoin Duignan an den Uilleann Pipes, zuletzt mit Jeremy Spencer an der Geige. Ich war sechzehn, als die in Cottbus gespielt haben. Und das hat mich vom Hocker gehauen.

Sorbisch folken in der Lausitz

Welche sorbischen Solisten und Gruppen zählt Kliem heutzutage zum Genre Folk? Und woran orientieren sich diese?

Nach wie vor aktiv ist die 1979 gegründete Bautzener Gruppe Sprjewjan, vor allem deren Dudelsackspieler und Sänger Tomasz Nawka. Sie wurden damals vom Folkrevival in der DDR beeinflusst. Heute spielen sie noch in Verbindung mit dem Tanzensemble Smjerdźaca/Schmerlitz. Dann wäre Kupazukow zu nennen, dahinter steht Marion Quitz, eine Leipziger Künstlerin mit Wurzeln im Spreewald, in ihrer Wahlheimat unter anderem bei den „Slawischen Nächten“ zu erleben.

Die Gruppe Brankatschki ist zurzeit recht beliebt mit ihrer Mischung aus Party, Pop und Polka, oft Covermusik, neu arrangiert mit Akkordeon und Waschbrett. Das Vokalensemble Přezpólni mit seinem durchdringenden Männergesang wird geleitet vom Sprachgenie Fabian Kaulfürst. Sie graben alte, oft vergessene sorbische Lieder aus, in Niedersorbisch, Obersorbisch und im Schleifer Dialekt. Ich höre bei ihnen einen starken Einfluss mährischer Musik heraus, Ergebnis jahrelanger Freundschaft zu tschechischen und slowakischen Tanzmusikensembles. 2022 standen Serbska Reja und Přezpólni gemeinsam auf der „Sorbischen Bühne“ beim größten tschechischen Folklorefestival in Strážnice.

Eng verbunden mit Tschechien ist auch die Gruppe ČILAK. Der Name ist eine Abkürzung für „Čłonstwo za integraciju ludoweje akordeonoweje kultury“, zu Deutsch „Mitgliedschaft für die Integration der Volksakkordeonkultur“. Das Wort ist aber auch eine vulgäre Anspielung auf das männliche Geschlechtsorgan. Das ist eine Gruppe junger, feierfreudiger Obersorben, die seit Jahren zu Folkfestivals nach Tschechien fahren und sich von den dortigen Liedern inspirieren lassen.

Eine Gruppe in Tschechien, die eine lange Freundschaft zu den Sorben pflegt, ist Lidová muzika z Chrástu aus der Nähe von Pilsen. Was sie spielen, ist sehr elaboriert, künstlerisch und stimmungsvoll. Aber sie spielen auch frei zu Sessions sorbische Lieder und versuchen gleichzeitig, Volksmusik in Tschechien zu entstauben. Sorbische Musik ist auf einigen ihrer Alben zu finden. Eines haben sie sogar komplett der sorbischen Kultur gewidmet.

Bernd Pittkunings ist der sorbische Liedermacher schlechthin. Als er in den Achtzigern anfing, eigene sorbische Texte zur Gitarre zu singen, war er ein Pionier. Das hat vor ihm keiner gemacht. 2022 bekam er den Mina-Witkojc-Preis des Landes Brandenburg für sein Engagement für die niedersorbische Sprache. Doch seit Corona hat er das professionelle Musikerdasein an den Nagel gehängt.

Matthias Kiessling

Marian Bulang, RBB

Die Folksamen spielen seit 2017 nicht mehr. Von der Bühne verabschiedet hat sich auch das 2007 gegründete Folkpunkduo Berlinska Dróha. 2018 trennten sich die Wege der Sängerin und Keyboarderin Uta Schwede und des Geigers und Punkliedermachers mit dem Künstlernamen Paul Geigerzähler.

Sorbischer Dudelsack – ein Auslaufmodell?

Wo kann man das Spiel auf typisch sorbischen Musikinstrumenten, den dreisaitigen Geigen wulke husle beziehungsweise huslički sowie den Dudelsäcken kozoł und měchawa, erlernen?  

Beides, sorbischen Dudelsack und dreisaitige große und kleine Geige, kann man fast nur in der Schleifer Gegend lernen. Wolfgang Kotissek vom Sorbischen Folkloreensemble Schleife unterrichtet jedes Jahr Schüler an beiden Instrumenten, zur Nachwuchsförderung für sein Ensemble. Ein sehr guter Lehrer ist Steffen Kostorz am Sorbischen Gymnasium in Bautzen. Auch der Dudelsackspezialist Andreas Hentzschel vom Sorbischen Nationalensemble bietet Unterricht an.

Und woher bekommt man heutzutage sorbische Musikinstrumente?

Nach dem Tod von Karl Tillich, dem Solodudelsackspieler am Sorbischen Nationalensemble, bauen in Deutschland nur noch Stefanie Hübner und Jens Güntzel in Semmichau bei Göda sorbische Dudelsäcke. Sie haben die Bauweise revolutioniert – Kunststoffsäcke anstelle von Leder, hochwertig in Serie produzierte Spielpfeifen, Stimmzungen aus dem 3D-Drucker und so weiter. Letztens hat das Schleifer Ensemble bei ihnen Instrumente gekauft. Aber nicht alle können sich mit ihren Neuerungen anfreunden. Sorbische Geigen baut in Görlitz der Geigenbauer Albrecht Höppner. Kunden sind vor allem Musiker des Sorbischen Nationalensembles in Bautzen. Eine gute dreisaitige, kleine sorbische Huslički-Geige bekommt man aber auch in Polen. In Wielkopolska werden ganz ähnliche Instrumente gespielt wie in der Schleifer Gegend, zusammen mit dem Dudelsack.

Lidová muzika z Chrástu

Foto: Jan Šveňha

Anker zur sorbischen Identität

Nur wenige Menschen spielen ein Instrument, aber jeder und jede hat eine Stimme. Und alle Kinder singen gern. Ist das Singen in Kita und Schule ein wirksames Mittel gegen die Gefahr, dass sie sorbische Sprache verschwindet?

Singen auf Sorbisch bietet einen emotionalen und sehr niedrigschwelligen Zugang zur Sprache, ist gleichzeitig soziale Interaktion, bringt Kinder und Erwachsene zusammen. In der Hinsicht ist es essenziell zur Weitergabe von Sprache, Identität und Kultur. Wenn ich zu Weihnachten Musikworkshops im Wendischen Museum in Cottbus mache, sind Lieder die beste Art, sorbische Sprache und Spaß gleichzeitig zu erleben. Wenn Kinder so früh wie möglich zum Beispiel in einen sorbischen Chor gehen, dann wird das Singen zur Normalität, Teil ihres Selbstverständnisses. Die guten Gefühle bleiben ein Leben lang erhalten und schaffen einen Anker zur sorbischen Identität, in einer Welt, die sonst sehr fragil und unbeständig ist. Doch Gesang allein wird die Sprache nicht retten. Die Folksamen sind ein gutes Beispiel, wie der richtige Input an richtiger Stelle – bei uns der sorbische Musikunterricht am Gymnasium – zu neuen kreativen Schüben für das Sorbische führen kann. Aber letztlich bin ich heute der Einzige aus der Band, der sorbisch spricht. Der Anker hat nicht ausgereicht.

Sven Günzel und Stefanie Hübner

Foto: Gregor Kliem

Obersorben, Niedersorben, Wenden

Die Sorben nennen sich selbst „Serbja/Serby“, leicht zu verwechseln mit den Serben in Südosteuropa. Zum kleinsten slawischen Volk, einer anerkannten Minderheit in Deutschland mit eigener Flagge und Hymne, gehören rund 60.000 Menschen. Es gibt zwei Schriftsprachen: Obersorbisch in der sächsischen Oberlausitz mit Bautzen als Zentrum, das dem Tschechischen nahesteht, und Niedersorbisch in der zu Brandenburg gehörenden Niederlausitz mit Cottbus und dem Spreewald. Es ist näher mit dem Polnischen verwandt. Im Gebiet um Schleife wird ein Übergangsdialekt gesprochen. Und was sind die Wenden? Diesen historischen Namen für die Slawen zwischen Elbe und Neiße benutzen heute die Niedersorben als Selbstbezeichnung. Besonders ihre Sprache ist akut vom Aussterben bedroht.

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Weiterführende Links:

www.ansambl.dewww.berlinskadroha.com
www.chrlis.cz (Lidová muzika z Chrástu)
www.die-folksamen.de
www.dudelsackwerkstatt.de
www.dw-ha.de
www.facebook.com/people/Brankatschki/100063507124697
www.facebook.com/prezpolni
www.facebook.com/sorbischesfolkloreensembleschleife
www.geigenbau-hoeppner.de/start.htm
www.kupazukow.jimdofree.com
www.ostfolk.de/bands/sprjewjan
www.serbskareja.wordpress.com
www.tourismus-sorben.com/bernd-pitkunings.html

Workshop des Sorbischen Nationalensembles zum Kralschen Geigenspielbuch, März 2023: www.ostfolk.de/aktuell/barocke-bauernmusik-lebendig-und-unkonventionell-31.03.23

 

Videolinks:

Serbska Reja mit „Zeschli Lubka Moja Bucz“ aus dem Kralschen Geigenspielbuch, 2016: www.youtube.com/watch?v=GsUobiNVvB4

Sprjewjan & Tanzgruppe Schmerlitz mit sorbischen Liedern und Tänzen, 2011: www.youtube.com/watch?v=sbQKw9tIo5Y

Kupazukow mit dem sorbischen Trinklied „Palenc“, 2011: www.youtube.com/watch?v=v2q5AaQ-k5M

Brankatschki mit „My Dźemy Dźensa – Wir gehen heute“, 2021: www.youtube.com/watch?v=olWsw2d70Ig

Přezpólni mit dem sorbischen Heischelied „Ha Hantworska Přaza“, 2015 (Musik beginnt bei 1:18): www.youtube.com/watch?v=PvO88IQWYXs

ČILAK, Auftritt in Liptovský Mikuláš, Slowakei, 2009: www.youtube.com/watch?v=f3E5Let3VgE

Lidová muzika z Chrástu mit sorbischen Volksliedern, 2021 (Musik beginnt bei ca. 1:20): www.youtube.com/watch?v=Y3f9auk6r-M

Bernd Pittkunings beim Festival Poetyckie Rubieże, 2010: www.youtube.com/watch?v=9_uWs2SAGEM

Die Folksamen, Livedoku 2014: www.youtube.com/watch?v=TPoFmjInRlE

Berlinska Dróha mit „Hanka“, 2017: www.youtube.com/watch?v=Bv90qzpg7cY

Aufmacherfoto:

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