Nach über zwanzig Alben geht die Band Keimzeit kontinuierlich ihren Weg und hatte scheinbar erstaunlich wenige Klippen zu umschiffen. Bis heute hat sie sich ihren ganz eigenen Stil bewahrt. Songs aus vier Jahrzehnten kann man auf dem aktuellen Doppelalbum Von Singapur nach Feuerland nachverfolgen, mit dem die Gruppe gerade auf großer Deutschlandtournee ist.
Text: Petra Rieß
Es war im Jahr 1980 als die drei Brüder der Familie Leisegang aus Lütte in Brandenburg beschlossen, die gepflegte Hausmusik ab jetzt sein zu lassen und eine Band zu gründen namens Jogger. Die Startbesetzung: Norbert, Hartmut und Roland, Gesang und Gitarre, Bass und Schlagzeug, plus Schwester Marion. Das Programm: Lieblingshits der Rockidole raushören, abhören, nachspielen – wie zum Beispiel von The Cure – und viele eigene Sachen machen. 1982 kam die Umbenennung der Band in Keimzeit und 1984 mit Ulrich „Ulle“ Sende ein weiterer Gitarrist. Marion Leisegang verließ nach der Geburt ihres zweiten Kindes 1989 die Formation, für sie stieg Matthias Opitz an den Keyboards ein. Ein Jahr später Ralf Benschu am Saxofon, der vorher schon als Gastmusiker in Erscheinung getreten war. Keimzeit war komplett und der Keimzeitsound geboren. Irgendwo zwischen Tanzkapellengroove und Led Zeppelin, zwischen Manfred Krug und Ton Steine Scherben. In einer solchen Besetzung ist viel möglich.
Frontman Norbert Leisegang singt mit brandenburgisch lässiger Zunge, ein romantisch frotzelnder Kerl mit großer Klappe und schulterlangen blonden Haaren. Die Haare sind schon lange ab, aber der lässige Ton ist geblieben. Auch für die Reime war und ist er zuständig. Laut eigener Aussage fiel es ihm nie besonders schwer, einen Vierzeiler rauszuhauen: „Ich bin der Hofnarr in eurem Königreich, / Ich tanze und singe, ihr lacht vielleicht. / Ich mach kalte Herzen warm, warme weich. / Ich bin Hofnarr in eurem Königreich.“
Der Titel „Hofnarr“ erschien 1990 auf dem Album Irrenhaus, aufgenommen 1988/89 im legendären Funkhaus in der Berliner Nalepastraße. In den dortigen Studios produzieren zu dürfen, war das Angebot des DDR-Rundfunks und eine Überraschung für die Band, die mit ihren Songs nicht allen Funktionären gefiel. Sogar ein kurzzeitiges Spiel- und Auftrittsverbot wurde in den Achtzigern mal erteilt. Grundsätzlich aber wurde Keimzeit von den DDR-Funktionären als Unterhaltungskunst eingestuft, und so hatten sie die Genehmigung für Schallplattenaufnahmen und öffentliche Auftritte. Irrenhaus war dennoch ein Wendepunkt mit Zeilen wie: „Irre ins Irrenhaus, die Schlauen ins Parlament. / Selber schuld daran, wer die Zeichen der Zeit nicht erkennt.“ Dem MDR sagte Norbert Leisegang 2021 im Interview: „Ich hab den Song 1986 geschrieben und eigentlich bei allen meinen Songs nur nach Worten gesucht, die irgendwie phonetisch funktionierten. Und dass die dann irgendwann so einen Sinn ergaben, das ist mir dann auch aufgefallen – später erst. Ich meine, das waren Umbruchszeiten, und insofern hat man schon in meine Texte einiges an Bedeutung reingelegt, was ich mir nie erträumt habe.“
Für manche ist Irrenhaus der Sound der Wende. Eine Wende im Sound kam 1998 mit dem Album Das elektromagnetische Feld, das viele Fans vergraulte. Der unterhaltsame, manchmal harmlos klingende Keimzeit-Klang war weg, die zwölf Songs waren krachiger, rauer, mit Elektronik und modernen Beats versetzt. Ade glückliche Hippiewelt, willkommen in den letzten Zügen des zwanzigsten Jahrhunderts. Anspieltipps auf diesem Album sind die Titel „Comic-Helden“ oder „Die Halbmenschen“.
Unterwegs auf den Spuren, die Keimzeit hinterlassen hat, stößt man auch auf Das vermutlich allerletzte Ostrockbuch des Journalisten Christian Hentschel, erschienen 2020. Wieder ist es Norbert Leisegang, der die Bandgeschichte erzählt. Man fragt sich, was eigentlich aus den anderen Keimzeitlern geworden ist. Bruder Holger spielt, neben anderen Bands und seiner Aufgabe als Dozent einer nicht ganz kleinen Musikschule, immer noch Bass bei Keimzeit. Roland Leisegang verließ 2013 die Band, ging in die Politik und wurde 2016 Bürgermeister in der Heimatstadt Bad Belzig. Ein Amt, das er seit 2022 nicht mehr innehat. Norbert Leisegang, der früher mit Hängematte und Gitarre wochenlang durch den Balkan bis ans Schwarze Meer trampte, lebt heute im Berliner Stadtteil Wedding und schreibt dort seine Songs für Keimzeit, die als Gruppe teilweise jünger geworden ist. Eigentlich habe er vor allem immer nur auf die Bühne gewollt und Musik machen. Die Politik, sagt er, habe ihn weniger interessiert.
Die frühen Songs haben genau diesen ungestümen Duktus und großen Unterhaltungswert. Der Hit „Kling Klang“, der 1993 auf dem Album Bunte Scherben erschien, ist dafür ein gutes Beispiel. Wenn bei einem Konzert dessen erste Zeile „Ich steck dir die halbe Tüte Erdnusschips in deinen zuckersüßen Mund“ erklingt, brandet binnen Sekunden Applaus auf und alle singen mit. Kein Wunder: dem Charme dieser schnoddrig-lässigen Poesie kann man sich kaum entziehen. Und apropos „Unterhaltungsmusik“: Über die Schlagerqualitäten von „Kling Klang“ machten sich anfangs sogar die eigenen Bandkollegen lustig. Immerhin coverte zwanzig Jahre später sogar Heino den Titel, der ohnehin auf den meisten „Ostrocksamplern“ landet. Norbert Leisegang allerdings mag das Label „Ostrock“ nicht, wie er Christian Hentschel im Interview sagt: „Ohne es bewerten zu wollen, kann ich mich gefühlsmäßig und von meiner Einstellung her, Musik zu machen, nicht dazuzählen. […] Es ist ein falsches Etikett.“
Nach der Wende gab es für Keimzeit, anders als bei vielen anderen DDR-Bands, keine Pause im Tourneeleben. Norbert Leisegang dazu: „Wir galten zumindest bei unserem Publikum nicht als staatskonforme Band, also sagte es sich, können wir ja weiterhin zu Keimzeit gehen.“
Nach über zwanzig Alben in vierzig Jahren, dem Projekt Keimzeit Akustik Quintett und einer Produktion mit dem Deutschen Filmorchester Babelsberg zieht Keimzeit gerade wieder auf einer langen Tournee durch deutsche Lande.
www.youtube.com/@keimzeit2783
Aktuelles Album:
Von Singapur nach Feuerland – Songs aus vier Jahrzehnten (COMIC Helden, 2022)
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