Stellen Sie sich ein kleines Mädchen von acht Jahren und ein großes, sieben bis acht Kilogramm schweres Instrument vor – eine Bandura. Als Kind träumte ich oft von einer kleinen Bandura. Als ich als Erwachsene auf eine ukrainische Volksbandura und eine Kobza stieß, die beide viel kleiner sind als die akademische Bandura, war ich begeistert. Und als 2012 ein Buch über ukrainische Musikinstrumente erschien (Muzychni Instrumenty Ukraïns’koho Narodu), bestellte ich es kurz darauf und las mit großem Interesse zunächst die Kapitel über die Ursprünge der Bandura. Danach entdeckte ich eine ganze Welt ukrainischer Instrumente, von denen ich noch nie gehört hatte.
Text: Anastasiya Voytyuk
Vor fast hundert Jahren hat der ukrainische Musiker Hnat Chotkewytsch eine kolossale Studie erstellt und mehr als hundert verschiedene Instrumente beschrieben, die in der Ukraine gespielt werden. Die erste Ausgabe des Buches wurde 1930 veröffentlicht und war ein Lehrbuch für ukrainische Studierende, mit 288 Seiten und 79 Abbildungen. Das Buch hatte eine Auflage von 3.000 Exemplaren, leider wurde es zensiert. Danach nahm Chotkewytsch viele Korrekturen und Ergänzungen vor, konnte sie aber nie veröffentlichen, da er ermordet wurde. Glücklicherweise blieb das Manuskript des Buches erhalten, sodass es 2012 in seiner korrigierten Form neu aufgelegt werden konnte. Zuvor war die ursprüngliche Fassung bereits 2002 erschienen. Alle drei Ausgaben wurden übrigens in Charkiw veröffentlicht, einer Stadt, die etwa vierzig Kilometer von der nördlichen Grenze der Ukraine zu Russland entfernt ist.
Dieses Buch kann auf unterschiedliche Weise gelesen werden. Man kann es einfach durchblättern und sich die vielen Illustrationen ansehen. Oder man kann Abschnitt für Abschnitt studieren, denn es enthält eine Menge an Informationen. Chotkewytsch untersucht jedes Instrument aus verschiedenen Blickwinkeln. Es gibt unter anderem Hinweise in antiken Texten, Chroniken, Augenzeugenberichten von Reisenden, Liedtexten, Zeichnungen, Mosaiken und Reliefs. Der Autor analysiert die Ursprünge der Namen der Instrumente und berichtet nicht nur darüber, wo, wie und wann das Instrument in der Ukraine gespielt wurde, sondern untersucht auch seine Popularität in Nachbargebieten und anderen Ländern.
Chotkewytsch unterteilt die Instrumente in vier Gruppen: Streicher, Bläser, Percussion und unbekannte Instrumente. Bei fünfzig von ihnen handelt es sich um verschiedene Blasinstrumente, von exotischen Exemplaren mit interessanten Namen wie Vurkalo und Telenka bis hin zu weltbekannten wie Klarinette und Oboe. Unter den Saiteninstrumenten finden sich viele, die auch in anderen Ländern zu finden sind wie zum Beispiel Violine, Zimbel, Kontrabass, Zither, Leier oder Drehleier. Aber es gibt auch viele Instrumente, die typisch für die ukrainischen Länder sind, wie Bandura, Kobza und verschiedene andere.
Eine sehr interessante Entdeckung, die ich dank dieses Buches machen konnte, war, dass es früher keine so klare Klassifizierung der Instrumente und der ihnen zugewiesenen Namen gab, wie es heute der Fall ist. Daher konnte ein und dasselbe Instrument je nach Zeit und Land völlig unterschiedlich bezeichnet werden. Zum Beispiel wurde die Bandura oft Kobza oder Gusla genannt. Auch Zither und Kitara wurden verwechselt. Das bedeutet, dass eine eindeutige Zuordnung eher ein Zeichen unserer Zeit ist, und die Tatsache, dass jemand ein bestimmtes Saiteninstrument einmal „Husla“ genannt hat, ist keine eindeutige Garantie dafür, dass es sich tatsächlich um dieses Instrument handelt.
„… frischer Wind für die ukrainische Kultur.“
Hnat Chotkewytsch selbst war ein sehr kluger und fleißiger Mann. Er war nicht nur Musiker und Komponist, sondern auch Schriftsteller, Ethnograf, Ingenieur, Übersetzer, Historiker, Theaterdirektor und ein sehr aktiver Verfechter der ukrainischen Kultur. Er spielte Bandura, Geige und Klavier, komponierte über sechshundert Stücke für die Bandura und entwickelte eine spezielle Spielweise für die Charkiwer Variante des Instruments, die auf alten Volksmusikstilen basiert.
Der wohl größte Nutzen seines Buches ist, dass er argumentiert, dass die Ukraine ein Ort der Entwicklung ihrer Instrumente und dies ein organischer Prozess gewesen sei, bei dem die Menschen mit Klängen experimentiert hätten. Ja, natürlich ist alles auf der Welt miteinander verbunden, und erfolgreiche Ideen reisen um die Welt. Aber in einer Situation, in der die Ukraine unter der Besatzung der Bolschewiken stand, die die Überlegenheit der russischen Kultur propagierten, war die wissenschaftliche Untersuchung der Entstehung und Entwicklung ukrainischer Instrumente wie ein frischer Wind für die ukrainische Kultur.
Hnat Chotkewytsch 1913
Hätte ich die Möglichkeit gehabt, hätte ich Hnat Chotkewytsch gerne persönlich kennengelernt. Er war ein talentierter und rastloser Mann, außerdem gutaussehend und sehr optimistisch. Er reiste durch die ganze Ukraine, erfand neue Musikformen, glaubte und überzeugte andere vom Wert der Volkskunst und sorgte für eine sehr hochwertige und zuverlässige Verbindung zwischen der Volkskunst und ihrer akademischen Version.
Auch kann ich mir vorstellen, wie viel Gutes er hätte schaffen können, wenn er nicht umgebracht worden wäre. Am 21. Februar 1938 verhaftete das NKWD*Abkürzung für Narodny Kommissariat Wnutrennich Del, zu Deutsch Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten= Chotkewytsch unter der absurden Anschuldigung, er sei Mitglied einer „antisowjetischen ukrainischen nationalistischen Terrororganisation“ und habe für den deutschen Geheimdienst gearbeitet. Sechs Monate später wurde der Künstler im Keller des Charkiwer Gefängnisses des NKWD hingerichtet. Übrigens wurden viele Exemplare ukrainischer Volksinstrumente, über die Hnat Chotkewytsch schrieb, aus der Ukraine gestohlen und befinden sich noch immer in russischen Museen.
Wenn Sie dieses Buch erwerben möchten, wenden Sie sich bitte an den Verlag von Oleksandr Sawtschuk, der seit 2010 in Charkiw tätig ist und bereits mehr als fünfzig hochwertige Titel über ukrainische Kunst, Geschichte, Philosophie und Ethnografie veröffentlicht hat.
Weiterführende Links:
Kostenloser Einblick in die Originalfassung des Buches von 1930 auf der Website der Nationalen Wissenschaftlichen Bibliothek Odessa: https://odnb.odessa.ua/rarities/item/149?lang=en
Hörbeispiel einer Komposition Hnat Chotkewytschs in einer modernen Banduraversion: www.youtube.com/watch?v=lip6dNVTNco
Seltene Aufnahme Hnat Chotkewytschs auf der Banudra aus dem Film Nazar Stodolya, in dem er einen alten, blinden Musiker spielt: www.youtube.com/watch?v=49XWuJ1Ww-E
Archivdokumente zum Fall und zur Hinrichtung Hnat Chotkewytschs: https://avr.org.ua/viewDoc/30613
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