In der ungarischen Hauptstadt gab es im Frühjahr ganz viel Musik zu entdecken, und zwar vor allem aus der Rootsszene Mittel-, Ost- und Südosteuropas. Das Festival, das seit 2016 existiert, fand vom 10. bis 13. April mitten im Zentrum der ungarischen Hauptstadt statt und zog eine große Zahl von Menschen an. Neben Konferenzen für Fachpublikum gab es ein öffentliches Showcasefestival mit Newcomern aus den genannten Regionen sowie eine ganze Reihe von Konzerten mit bereits etablierteren Acts.
Text und Fotos: Willi Klopottek
Besonders interessant waren die Showcases, mit denen Ritmo am Mittwochnachmittag eröffnet wurde. Schauplatz war Szimpla Kert im jüdischen Viertel hinter der berühmten Großen Synagoge, die wohl erste „Ruinenkneipe“, die junge Einheimische und Urlaubsgäste in Scharen anzieht. Szimpla Kert ist ein nur notdürftig instand gesetztes, altes Mehrfamilienhaus, das auf mehreren Ebenen zahlreiche Bars beherbergt und eine urige Atmosphäre bietet.
Die vierzigminütigen Kurzkonzerte fanden auf der kleinen Bühne am Ende des Lokals statt, die überwiegend jungen, stilistisch ganz unterschiedlichen Bands die Möglichkeit bot, sich dem Publikum zu präsentieren, und die alle mit hoher Qualität überzeugten. Den Auftakt machten die vier Frauen des Ensembles PJEV. Die Mitglieder des Quartetts stammen aus Kroatien, Serbien und Bosnien und betonen die kulturellen Gemeinsamkeiten der Völker des westlichen Balkans. Hier gab es vierstimmigen A-cappella-Gesang der ganz feinen Art zu hören, in dem erstaunlich exakt verschiedene Ton- und Intonationsformen miteinander verwoben wurden. Das Quintett Daj Ognia aus Krakau beschäftigt sich mit mittelalterlichen polnischen Musikformen, öffnet sich aber auch skandinavischen Stilen und leistet damit offenbar Pionierarbeit. Auffällig ist der Einsatz zweier urtümlicher Leiern, wie sie in Nordeuropa, vor allem in Finnland (Jouhikko) noch in Gebrauch sind. In Nordeuropa sind Tänze mit dem Namen „Polska“ verbreitet, die belegen, wie die Gruppe betont, dass die dortige Musik polnische Einflüsse aufgenommen hat.
„Zu diesem Festival zu fahren, lohnt sich unbedingt.“
Dis Is Markēta kommen aus der Slowakei und sind ein Quintett in der Besetzung Keyboard, Cello, E-Bass und Schlagzeug. Die Mitglieder haben alle einen unterschiedlichen musikalischen Hintergrund. Mit ihrer Sängerin Martina Kertészová spielen sie in der Tradition wurzelnde Stücke, in denen sich balladeske Phasen mit stark rockigen abwechseln. 2022 wurde die Band für ihre Arbeit mit einem Radio-Head-Award des slowakischen Senders Radio Hlavy belohnt.
Im tschechischen Böhmen wird traditionelle Musik fast durchgängig mit geraden Takten gespielt, während schon in Mähren vertrackte, ungerade Rhythmen üblich sind. Besonders gut konnte man dies bei der Gruppe Hrubá Hudba aus der osttschechischen Region Horňácko, nahe der Grenze zur Slowakei, hören. Mit zwei Violinen, Bratsche, Cello, Klarinette und Gesang führten sie auf, was in ihren Dörfern immer noch lebendig ist. Verstärkt und gleichzeitig aufregend verfremdet wurden ihre Stücke durch ein experimentelles Trio mit Schlagzeug, Trompete und Keyboard. Hajda Banda ist eine Formation mit Mitgliedern aus Polen und Belarus, die selbst komponierte Stücke spielen, die die trotz der räumlichen Nähe ganz unterschiedlichen Stile Ostpolens und Weißrusslands miteinander kombinieren – und dadurch auch ein deutliches Signal in einer nicht konfliktfreien Lage senden. Das Hackbrett verbindet sich hier mit Akkordeon, Percussion, zwei Violinen und Gesang zu einer wahrhaft völkerverbindenden Melange, die sowohl getragene belarussische Weisen als auch polnischen Groove auf die Bühne bringt.
Während die Showcases öffentlich zugänglich waren, musste man für die Konzerte am Freitag und Samstag Eintritt bezahlen. Der architektonisch ausgefallene Veranstaltungsort Akvárium befindet sich mitten im Zentrum direkt beim Erzsébet tér, dem Elisabeth-Platz mit seinem unübersehbaren Riesenrad, und beheimatet drei unterschiedlich große Säle. Sie befinden sich unterirdisch, teilweise überdeckt von einem flachen Teich mit Glasboden – daher der Name. Den Eingang erreicht man über einen langgestreckten, stufigen Abgang ins Untergeschoss, der von Getränkeständen mit Sitzgelegenheiten gesäumt wird und sich bei den Einheimischen großer Beliebtheit erfreut. Die in den dortigen Sälen stattfindenden Konzerte überlappten sich zeitlich und garantierten ununterbrochenen Musikgenuss.
Als internationale Headliner angekündigt waren die malische Legende Salif Keita, die südafrikanische Band BCUC, die Istanbulerin Gaye Su Akyol und aus Italien Luca Bassasene & La Piccola Orchestra Popolare (siehe auch Rudolstadt im letzten Jahr). Keita wurde leider kurzfristig abgesagt, Akyol und Bassanese aber begeisterten das Publikum mit aktuellen Formen anatolischer beziehungsweise italienischer Musik. Das Septett BCUC, WOMEX-Award-Gewinner 2023, setzte das Publikum mit seinem energiegeladenen, perkussiven Mix aus Mbaqanga, Gospel, und Shouten unter Strom.
Begonnen wurde das Festival aber ganz ruhig und ungewöhnlich mit einer Filmpräsentation in Kombination mit einem Vokaltrio. Der französische Filmemacher Vincent Moon hatte seine Eindrücke von Budapest in bewegte Bilder gesetzt, die dann vom brillanten ungarischen Frauenvokalensemble Dalinda live untermalt, ergänzt und verstärkt wurden. Das schräge estnische Duo Puuluup, das über eine dicke Portion hintergründigen Humor verfügt, überraschte den Saal mit einem expressiven Einsatz ihrer beiden alten gestrichenen estnischen Talharpa-Leiern, die sie oft mit einer Reihe von Effektgeräten verfremdeten. Die beiden Musiker verarbeiten sowohl Traditionelles als auch Eigenkompositionen. Mit nur zwei Instrumenten von minimalistischer Variationsbreite sowie Gesang und Fußstampfen den kleineren Saal zum Kochen zu bringen, verlangt schon besondere musikalische Kompetenz.
Im großen Saal trat die nordmazedonische Romabrassband Džambo Aguševi Orchestra auf. Vom ersten Ton an begeisterte das Nonett das Publikum mit enormem Druck und Tempo, und zwar ausschließlich mit Blasinstrumenten und einem Schlagzeug. Sie spielen in derselben Liga wie das serbische Orchester von Boban Marković und die rumänische Fanfare Ciocarlia. Deutlich ruhiger, aber dennoch sehr spannungsreich war der Auftritt des Duos von Almir Meskovic und Daniel Lazar, die ihre Wurzeln in Bosnien, Serbien und Rumänien haben und sich in Norwegen beim Studium trafen. Mit Akkordeon und Geige vereinten sie Balkanmelodien mit skandinavischen Elementen.
Ähnlich spannend und virtuos, jedoch in größerer Besetzung, war das Konzert des Bulgaren Theodosii Spassov an Dudelsack, Saxofon und Klarinette zusammen mit dem ungarischen Spieler der Kaval-Flöte Ágoston Béla. Die schrägste Band des Festivals war die Decolonize Your Mind Society aus Ungarn, deren Mitglieder ihre Gesichter hinter skurrilen Masken verbargen und ganz experimentelle Töne auf die Bühne brachten, die sich zwischen Free Jazz und Noise bewegten. Zurückgelangen zu leiseren Tönen konnte man bei Jelena Popržan. Die Bratschistin stammt aus dem serbischen Novi Sad, lebt in Wien und ist unter anderem vorher schon mit ihrem Ensemble Madame Baheux getourt. Sie bewegt sich zwischen Klassik, Jazz und Weltmusik und lässt sich in keine Schublade packen.
Zu diesem Festival nach Budapest zu fahren, lohnt sich unbedingt. Aber ganz erfreulich wäre, wenn Konzertveranstaltende diese innovativen Musikschaffenden auch nach Deutschland holen würden.
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