Traditions­bewusst und experimentier­freudig

Eine musikalische Reise durch Korea

31. Mai 2022

Lesezeit: 7 Minute(n)

Auf der kleinen koreanischen Halbinsel gibt es eine gut sechstausend Jahre alte Musiklandschaft zu entdecken, deren Klangspuren von frühzeitlichen schamanischen Ritualen über Musik indigener Traditionen, höfische Musik, politische Lieder und Volksoper bis hin zum weltweit meistverkauften Genre K-Pop reichen. Schon länger lässt sich das außergewöhnliche Engagement der Region in der UN-Kulturorganisation UNESCO beobachten. So wurden seit 2008 einundzwanzig koreanische Einträge in die Liste des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen, viele davon mit Musikbezug. Südkorea gehörte auch zu den weltweit Ersten, die die UNESCO-Konvention zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen ratifizierten. Was macht diesen Kulturraum musikalisch heute so interessant und erfolgreich? Einen Kulturraum, der sich historisch und geografisch eingekeilt findet zwischen den Mächten China und Japan, von 1910 bis 1945 japanische Kolonie war und seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Koreakrieg 1950 bis 1953 in zwei LänderZum Verständnis: Die, seit rund achtzig Jahren bestehende politische und wirtschaftliche Zweiteilung der koreanischen Halbinsel betrifft einen uralten gemeinsamen musikalischen Kulturraum. Deshalb wird im Laufe des Beitrags im Hinblick auf die musikalische Entwicklung nicht strikt zwischen Nord- und Südkorea unterschieden. Seit der Teilung gibt es weiterhin gemeinsame Traditionen und wechselseitige Bezüge, wenn sie heute auch über Umwege praktiziert werden. mit unterschiedlichen politischen Systemen und Ideologien geteilt ist.
Text: Birgit Ellinghaus

„Seit 2008 wurden 21 koreanische Einträge in die Liste des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen, viele davon mit Musikbezug.“

Besuch in der DMZ, der demilitarisierten Zone, Grenzlinie entlang des 38. Breitengrades zwischen Nord- und Südkorea, die 1953 nach dem Ende des Koreakrieges gezogen wurde, dort, wo der Norden von der Sowjetunion und der Süden durch Truppen der USA besetzt war. Mit dem Bus geht es in knapp zwei Stunden von Seoul Richtung Norden. Bei der Überquerung der Brücke über den Fluss ImjinDer Rimjin bzw. Imjin ist ein Fluss in Nord- und Südkorea.
Seine Fließrichtung ist von Norden nach Süden. Er durchfließt die Demilitarisierte Zone und mündet in den Hangang nördlich von Seoul, nahe dessen Mündung in das Gelbe Meer.
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Imjin, 2022
sieht man bereits militärische Sicherungsanlagen mit Wachtürmen und Zäunen, die an die innerdeutsche Grenze erinnern. Endstation ist eine Art Disneyland des Koreakrieges mit Erlebniswelten, einem ultramodernen Bahnhof des Schnellzugs nach Pjöngjang mit Gleisen ins Nirgendwo und einer Aussichtsplattform mit Blick in den verbotenen Norden. Der Soundtrack für Touristen und Touristinnen aus aller Welt oszilliert zwischen Gewehrsalven, Militärmärschen aus den Propagandafilmen und aktuellen K-Pop Hits. Was aber wissen wir über die Musikszene jenseits der Grenze?

​Vor der Teilung war der Norden die ökonomisch reiche Region und das historische kulturelle Zentrum Koreas. Dies war die Grundlage eines umfangreichen musikwissenschaftlichen Forschungsprogramms, mit dem zwischen 1955 und 1963 an der bedeutenden Musikhochschule von Pjöngjang an über hundertfünfzig traditionellen koreanischen Instrumenten gearbeitet wurde, um ihren Tonumfang, die Klangstärke und -farbe für das Spiel sowohl pentatonischer als auch chromatischer Tonleitern zu erweitern. Die neuen Bauformen dieser Instrumente erforderten auch die Entwicklung von neuen Spieltechniken. Diese Modifikationen machten dann den Export revolutionärer Volksopern und Kooperationen mit Ländern des Sozialismus und Kommunismus möglich. So wurde erstmals koreanische Musik international populär. Und die neuen Möglichkeiten des ost-westlichen Zusammenspiels erwiesen sich im Laufe der Zeit auch als wichtiger Impuls für den heutigen weltweiten Erfolg südkoreanischer Bands wie Jambinai oder Sinnoi. Zudem wurde ab 1997 von der Regierung in Pjöngjang mit Elite-Talentförderung systematisch sogenannte Musikpolitik betrieben – im Land selbst, als Methode, um mit Musik, dem Volksliedkanon und neuen Liedern das Volk zu mobilisieren. Aber es wurden auch Musikerinnen und Musiker der koreanischen Minderheit in Japan gefördert, die sowohl in Pjöngjang studieren konnten als auch auf einem Schiff vor der koreanischen Küste, das als Musikakademie diente.

Während der Kolonialzeit wurden viele Koreanerinnen und Koreaner nach Japan deportiert und im Zweiten Weltkrieg über zweihunderttausend koreanische Frauen von japanischen Truppen als sogenannte „Trostfrauen“ zwangsprostituiert. Aufgrund der ungewissen Lage in Südkorea nach 1945 blieben Hundertausende in Japan, obwohl ihnen dort das Wahlrecht und auch die zuvor aufgezwungene japanische Staatsbürgerschaft entzogen wurde. Selbst an der japanischen Kunstakademie ausgebildete Musiker und Musikerinnen hatten quasi Auftrittsverbot, sodass sie sich nach Bühnen in Nordkorea orientierten. Noch in den Sechzigerjahren migrierten rund hunderttausend Koreanerinnen und Koreaner von Japan nach Nordkorea, darunter viele Musikerinnen und Musiker.

Zur koreanischen Minderheit in Japan gehört die dort auch geborene Gayageum-Spielerin Soona Park, die ihre Ausbildung jedoch im Rahmen der Eliteförderung an der Musikhochschule Pjöngjang erfuhr und heute zu den viel beachteten Künstlerinnen der aktuellen südkoreanischen Musikszene mit innovativer Spieltechnik gehört. Auch der Sänger Lee Hee-moon ist Zeitzeuge der Auswirkungen der kolonialen Vergangenheit. 2018 inszenierte er mit seinem Ensemble ein eindrucksvolles und berührendes autobiografisches Konzertprogramm mit Liedern im Minyo-Stil, die er als Kind von seiner Mutter lernte, mit der er in Japan im Bordell lebte. Und obwohl er zu den bekanntesten „wilden“ Musikschaffenden der koreanischen Ethnomusikszene mit internationaler Wahrnehmung gehört, verschwand sein Konzertprogramm schnell wieder von den Spielplänen. Das Thema der „Trostfrauen“ ist bis heute tabuisiert, und Japan und Südkorea streiten sich um die Aufarbeitung dieser Verbrechen.

Lee Hee-moon

Fotos: KAMS

Seit der Teilung des Landes hat sich das damals bitterarme Südkorea zu einem der wohlhabenden Länder der Welt entwickelt, auch dank des globalen Erfolgs von Techgiganten wie Samsung oder Hyundai. Heute ist die Hauptstadt Seoul eine moderne, multikulturelle Millionenmetropole, in der unmittelbar neben glasverspiegelten Hochhäusern dörfliche Hanokviertel mit traditionellen Teehäusern stehen. Es gibt angesagte Szenestadtteile mit Clubs für Jazz, Electro und K-Pop, aber auch Bühnen für Bands aller Stilistiken, Cafés und Bars im Fashiondesign für die urbane Jugend, typische asiatische Märkte oder ganze Blocks einnehmende königliche Paläste mit weitläufigen Parks. Das Vorhandensein solcher Orte bietet zahlreiche Spielflächen für eine agile und experimentierfreudige musikalische Szene. Als Strategie zur Stärkung kultureller Identität fördert die südkoreanische Regierung das gesamte Spektrum dieser vielfältigen Musikszenen mit Musikexportprogrammen bei internationalen Gastspielen sowie im Land selbst mit musikalischen Ausbildungsmöglichkeiten, Kreationen, Produktionen und Vermarktung.

Delegation vor dem Museum des Gugak Center in Seoul

Fotos: KAMS

Bereits 1951 wurde als Antwort auf die Teilung Koreas das Nationale Gugak-Zentrum in Seoul gegründet. Es steht in der Nachfolge des höfischen Musikinstituts, das seine Ursprünge in der Joseon-Dynastie (1392-1910) als Zentrum für traditionelle koreanische darstellende Kunst hatte. Gugak steht heute für einen erweiterten Begriff von traditioneller Musik, der zwei große Klassifikationen zugeordnet werden. Die eine ist Jeongak, die höfische Musik der Oberklasse, mit ritueller Musik zu offiziellen Anlässen, Bankettmusik und Musik für royale Paraden, aber auch notierte Instrumental- und Vokalmusik. Minsogak, die zweite Linie des Gugak, umfasst die Genres der regionalen und lokalen Volksmusiken, Kunstmusik, religiöse Musik im Kontext buddhistischer und schamanischer Rituale bis hin zu heutigen Formen kreativer und improvisierter Vokal- und Instrumentalmusik für Orchester, kleine Ensembles und Solisten oder Solistinnen, die traditionelle Elemente aus dem Gugak-Kanon aufgreifen. Das Zentrum ist ein riesiger Komplex von verschiedenen Gebäuden mit Musikforschungsinstitut, Archiv, Museum, Musikakademie, Proben- und Konferenzräumen und mehreren Bühnen mit öffentlichen Programmen. Auch das staatliche Court Music Orchestra des Gugak ist dort angesiedelt. Es spielt höfische Musik zu repräsentativen Anlässen, aber auch für Touristen und Touristinnen in den königlichen Palästen und manchmal auch im Ausland, so wie es im Herbst 2022 in der Elbphilharmonie in Hamburg geplant ist.
Wenn man den Facetten der Volksliedtradition Minyo oder dem Arirang-a-cappella-Gesang der Arbeitslieder nachspüren will, oral tradierte schamanische, buddhistische und andere religiös-rituelle Musik sucht oder die Kunst der gesungenen Pansori-Epen entdecken möchte, dann lohnt sich ein Ausflug in die Provinz. Denn wie in den europäischen Alpen hat sich auch in der bergigen Landschaft der koreanischen Halbinsel in fast jedem Tal eine eigene Musik, ein eigenes Repertoire entwickelt und damit ein eindrucksvoller Varianten- und Stilreichtum, der bis heute als lebendige Musikpraxis erhalten ist. Dies wird auch staatlich gefördert in den regionalen Gugak-Zentren in Busan im Südosten, in Jindo im äußersten Südwesten sowie im Nationalen Pansori-Zentrum in Jeonju im Landesinneren südlich von Seoul

„In der bergigen Landschaft der koreanischen Halbinsel hat sich ein eindrucksvoller Varianten- und Stilreichtum entwickelt, der bis heute als lebendige Musikpraxis erhalten ist.“

Folkgruppe Hanuk im Nationalen Pansori-Zentrum in Jeonju

Fotos: KAMS

​Jeonju ist das Zentrum des Pansori, der 2008 von der UNESCO in die Repräsentative Liste des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen wurde. Die Kleinstadt setzt voll auf Musik als Motor für Tourismus und Wirtschaft und hat bis zum Beginn Pandemie jährlich zehn Millionen Besucherinnen und Besucher angezogen. An jeder Straßenecke finden sich Geschäfte mit Requisiten wie Fächer und Kostüme, es gibt Werkstätten für Instrumente, Teehäuser für private Treffen mit Pansori-Aufführungen oder auch ein Hanokviertel mit achthundert traditionellen koreanischen Häusern, in dem sich die Volksmusikamateurszene und die traditionellen Gemeinschaften aller Altersgruppen der Region treffen, die hier proben und ihre Aufführungen präsentieren.

Im Gegensatz zur Volksmusik ist Pansori seit dem Beginn des achtzehnten Jahrhunderts eine sehr raffinierte und expressive performative Bühnenkunst aus Gesang und instrumenteller Begleitung, die ausschließlich von professionellen Künstlerinnen und Künstlern praktiziert wird. Sie ist jedoch weit mehr als eine Musikform, da in ihr auch theatralische Elemente wie Gesten und tänzerische Bewegungen sowie Poesie wichtig sind. Ähnlich wie die okzitanischen Troubadoure, deren Poesie und Gesangskunst seit den Sechzigerjahren wegen ihres gesellschaftskritischen Widerspruchspotenzials an neuer Popularität gewannen, erlebt Pansori heute weit über die Grenzen der Region hinaus neue Beachtung. Die Epen werden von einer jungen, wilden und weltoffenen Generation von Interpretinnen und Interpreten auf Bedeutungstauglichkeit für die heutige gesellschaftliche Realität geprüft, von K-Pop-Bands variiert und bei Musikfestivals zelebriert. Im Sommer findet das Jeonju International Sori Festival statt, zu dem Besucher aus aller Welt strömen, um die großen Pansori-Meister und -Meisterinnen sowie klassische wie innovative Aufführungen live zu erleben. Es gehört heute zu den weltweit gepriesenen Musikfestivals. Dort begann auch die junge Sorigun (Pansori-Meisterin) Lee Narae, die schon mehrfach umjubelte Konzerte in Deutschland gegeben hat und die künstlerische Seele der Formation Leenalchi ist.

Es gibt noch viele Facetten der koreanischen Musikszene zu entdecken. Sie ist in ihrer Identität im musikalischen Wettbewerb der politischen Systeme über Jahrzehnte gestärkt, gleichzeitig traditionsbewusst und experimentierfreudig und kann sich mit Unterstützung öffentlicher Förderung und dem hohen Grad an Digitalisierung im Land weiterentwickeln. So ist es heutzutage glücklicherweise problemlos möglich, viele Bands und Musikschaffende auch aus der Ferne zu hören.

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