Durchquert man vom Fluss aus das French Quarter, die Altstadt von New Orleans, gelangt man an einen Park, der dem berühmtesten Sohn der Stadt gewidmet ist: Louis Armstrong. Links daneben befindet sich eine unscheinbar wirkende Freifläche. Und doch wäre ohne diesen Ort, den Congo Square, die Kulturgeschichte der USA und letztlich der ganzen Welt anders verlaufen. Blues, Jazz, Funk, Soul und Hip-Hop – mit anderen Worten: die Popmusik der letzten hundert Jahre – hätte es so nicht gegeben. Hier wurde afrikanisches Kulturerbe stärker bewahrt als irgendwo sonst in Nordamerika.
Text und Fotos: Wolfgang König
Während der französischen Kolonialherrschaft (1718-1762) wurden vor allem Sklaven und Sklavinnen aus Senegambia, dem Kongobecken und Angola nach New Orleans gebracht. Sie begründeten einen kreolischen Kulturmix, dem sich spätere Ankömmlinge anpassten, nicht ohne Eigenes beizutragen. 1724 erklärte der auf dem gleichnamigen Dekret König Ludwigs XIV. für die karibischen Kolonien aus dem Jahr 1685 basierende französische Code Noir den Sonntag für alle zum arbeitsfreien Tag. Für die Schwarzen von New Orleans wurde als Versammlungsort ein Platz hinter der damaligen Stadtgrenze festgelegt, der nach einiger Zeit den Namen „Congo Square“ erhielt.
Während der spanischen Periode (1762-1800) kamen die Versklavten in erster Linie aus dem heutigen Nigeria, Ghana, Sierra Leone und Mosambik. Viele wurden im nahen Havanna erworben, wo sich der größte Sklavenmarkt der Karibik befand. Nach dem Verkauf der Stadt an die Vereinigten Staaten 1803 und nachdem sich Washington 1808 dem britischen Verbot des transatlantischen Sklavenhandels angeschlossen hatte, kam die Masse neuer versklavter Personen aus anderen Teilen der USA, auch wenn bis 1845 immer wieder Schiffe mit menschlicher Fracht aus Afrika ihre „Waren“ im Schutz der Dunkelheit an der unübersichtlichen Küste Louisianas an Land brachten. Viele dieser Unglücklichen nahmen regelmäßig an den sonntäglichen Treffen auf dem Congo Square teil und steuerten unverfälschte afrikanische Kulturelemente bei. Sogar Maroons, aus der Sklaverei Entflohene, die in den Sümpfen am Mississippi lebten, fanden sich oft dort ein, trotz der Gefahr, entdeckt zu werden. Eine Gruppe aber war kaum zu sehen: Haussklaven oder -sklavinnen, die nicht auf den Feldern arbeiten mussten, hielten sich häufig für etwas Besseres und bevorzugten die Musik und Tänze ihrer weißen Herren.
Nach der Sklavenrevolution von 1791 in Saint-Domingue, dem heutigen Haiti, setzte dort ein Exodus ein. Tausende, die der Rache der Aufständischen entgangen waren, flohen aus dem Land: Franzosen und Französinnen, aber auch freie Schwarze, die sich französisch fühlten. Sogar manche Sklaven und Sklavinnen folgten – mal mehr, mal weniger freiwillig – ihren Herrschaften ins Exil. Das lag in Frankreich, im benachbarten Kuba oder in New Orleans, wo es aus diesem Grund bis heute eine Voodootradition gibt. In Kuba vollzog sich eine kulturelle Vermischung, die 1808 auch die Stadt im Süden der USA erreichte: Napoleon hatte Spanien annektiert, und der Gouverneur in Havanna forderte von allen Französischstämmigen auf der Insel einen Treueeid auf Spanien. Die meisten waren dazu nicht bereit, packten erneut ihre Koffer und zogen mit ihren Leibeigenen weiter nach New Orleans, mit zahlreichen afrokubanischen Kulturelementen im Gepäck.
„Ohne diesen Ort wäre die Kulturgeschichte der USA und letztlich der ganzen Welt anders verlaufen.“
Die wichtigsten Instrumente, die sonntags auf dem Congo Square gespielt wurden, waren afrikanischen Vorbildern nachempfundene Trommeln. Große Exemplare mit tiefen Tönen lieferten die rhythmische Grundlage für kleinere, höher klingende Varianten, auf denen schnellere, synkopierte Beats erzeugt wurden. Manche Trommeln waren lediglich ausgehöhlte, mit Sticks geschlagene Baumteile, andere waren mit Tierhäuten bespannt und wurden mit Stöcken, Händen oder beidem gespielt. Lamellofone afrikanischer Bauart nach dem Beispiel der Mbira kamen auf dem Platz zum Einsatz, aber auch auf das westafrikanische Balafon zurückgehende Marimbas begleiteten die Zusammenkünfte. Panflöten und in Instrumente verwandelte Kuhhörner fanden ebenfalls Verwendung. Und schließlich wurde schon vor etwa zweihundert Jahren auf dem Congo Square die Banza gespielt, eine Vorform des Banjos, das in Nordamerika als Synthese von Instrumenten aus der Senegambia- und der Kongoregion entstand.
Auch die Körper der Tanzenden wurden zu Instrumenten – durch rhythmische Gesänge, Klatschen in die Hände und Stampfen mit den Füßen, an denen oft rasselnde oder klappernde Gegenstände befestigt waren. Mit Steinen gefüllte Kalebassen wurden geschüttelt, Tierknochen gegeneinander beziehungsweise auf leere Fässer geschlagen. Im Lauf der Zeit kamen europäische Instrumente wie die Geige dazu, und auch die Liedtexte wandelten sich. Afrikanische Sprachen wurden mehr und mehr durch das Englische ersetzt, vor allem aber durch das Louisiana-Kreolisch, das im Wesentlichen vom Französischen abgeleitet ist, auch wenn 1880 auf dem Congo Square noch Lieder gesungen wurden, die zumindest von zeitgenössischen Beobachtern als rein afrikanisch eingestuft wurden.
In den Choreografien, bei den Instrumenten, Rhythmen und Gesangsstilen blieb Afrika auf dem Congo Square stärker präsent als an jedem anderen Ort in Nordamerika. Auch der afrokubanische Einfluss blieb nachhaltig. Viele Songs verwendeten die Dur- und Molltonarten aus Europa, aber in den Tanzstücken dominierte die afrikanische Pentatonik. So lassen sich in den Tänzen beim örtlichen Karneval, dem Mardi Gras, bis heute zahlreiche afrikanische Elemente finden.
„Auf dem Congo Square blieb Afrika stärker präsent als an jedem anderen Ort in Nordamerika.“
Die Tanzenden auf dem Congo Square bildeten oft einen Kreis, wie es in vielen Teilen Afrikas immer noch üblich ist. Darum sind auch die Pflastersteine, die den Ort heute bedecken, kreisförmig angeordnet. Und anders als ihren weißen Herren war den Afroamerikanern die strenge Trennung der Gattungen fremd. Daher war es üblich, dass Tänzer, Sänger und Musiker immer wieder die Rollen wechselten. Blieben in den ersten Jahrzehnten auf dem Congo Square die Sklaven und Sklavinnen mit persönlichem Bezug zu einer bestimmten afrikanischen Kultur noch weitgehend unter sich (es gab ja auch immer wieder Neuankömmlinge direkt aus Afrika), mischte sich dieses Erbe vor allem nach dem Kauf Louisianas durch die USA immer stärker. Die auf dem Congo Square gespielten Rhythmen bildeten später die Grundlage von Blues und Jazz. Und noch heute leben sie in der Musik der Second-Line-Paraden fort, bei denen eine Brassband (First Line) durch die Stadt zieht, der eine Gruppe von zumeist tanzenden Fans als Second Line folgt.
Die sonntäglichen Zusammenkünfte hatten neben dem kulturellen sogar einen wirtschaftlichen Aspekt als Handelsplatz. Wie in vielen Teilen Afrikas wurde dieser Markt auch hier von Frauen dominiert. Einige hatten als Sklavinnen genügend Geld erwirtschaften können, um sich freizukaufen. In den Kolonien Amerikas katholischer Länder wie Frankreich, Spanien oder Portugal war so etwas nicht ungewöhnlich, im Sklavereisystem der USA aber nicht vorgesehen. Louisiana und speziell New Orleans unterschieden sich jedoch vom Rest der USA und wurden auch nach 1803 von seiner französisch- und spanischstämmigen Bevölkerung dominiert. Deren Angehörige gaben ihren Sklaven und Sklavinnen häufig etwas Land, das sie für den Eigenbedarf beziehungsweise für den Verkauf bebauen konnten. Die schwarzen Marktfrauen auf dem Congo Square boten vor allem Alkohol, Softdrinks, Kaffee und Tabak an. Hausgemachte Eintöpfe, Pasteten und Pralinen, wie sie damals auch verkauft wurden, gehören bis heute zur kulinarischen Tradition der Stadt.
Die wöchentlichen Treffen der Versklavten auf dem Congo Square endeten erst kurz vor Beginn des US-amerikanischen Bürgerkrieges. Meistens versammelten sich Hunderte, manchmal Tausende auf dem Platz. Er ist nicht nur untrennbar mit der Entwicklung des Jazz und diverser verwandter Stile verbunden, in unmittelbarer Nähe befand sich auch ein Tonstudio, in dem in den 1950er-Jahren schwarze Künstler wie Fats Domino und Little Richard einige der ersten Rock-’n’-Roll-Titel einspielten. Die erste Ausgabe des wichtigsten Musikevents der Stadt, des New Orleans Jazz & Heritage Festivals, fand 1970 auf dem Congo Square auf einer Bühne statt. Heute wird es auf einer Rennbahn veranstaltet und verfügt über zwölf Bühnen. Die, auf der afrikanische und andere Weltmusik präsentiert wird, heißt bis heute „Congo Square Stage“.
Auch gut dreihundert Jahre nach der Gründung von New Orleans und siebzehn Jahre nach der Zerstörung großer Teile der Stadt durch Hurrikan Katrina wird die Tradition fortgesetzt. Der Congo Square dient immer noch als Versammlungsplatz, vor allem für die mehrheitlich afroamerikanische Bevölkerung der Stadt. Heute trifft man sich hier zum Trommelunterricht, zu Hochzeiten und Familienfeiern, zu politischen und kulturellen Veranstaltungen. Mit etwas Glück kann man also immer noch erleben, was der Reisende Henry C. Knight 1819 beobachtete, nämlich wie die dort Versammelten die Stadt „mit ihren Kongotänzen rocken“: „They rocked the city with their Congo dances.“
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