Wir haben alle unsere Vorstellungen, wie bestimmte Musik typischerweise klingt. Tango? Das sind die mit den Bandoneons. Bluegrass? Irgendwas mit Banjo, Geige und Mandoline. Balkan? Klar, Blechbläser. Doch oft bilden diese Konzepte die Wirklichkeit nur unzureichend ab, wie der Blick auf Südosteuropa zeigt.
Text: Ines Körver
„Auf dem Balkan gibt es viele Musiktraditionen, die nicht von den Roma geprägt sind.“
„Balkanmusik? Das sind doch die Roma mit den Trompeten.“ Wer sich mit der Musikkultur Südosteuropas auseinandersetzt, bekommt diesen Kommentar in Deutschland ständig zu hören. Er wird der Vielfalt der Traditionen der Region nicht gerecht, ebenso wie andere Reaktionen, die man immer wieder erlebt. Grund genug, sich sechs Klischees über Balkanmusik näher anzuschauen und ein wenig Kontext zu liefern.
Taraf de Haidouks
Fotos: Damien Gard
Klischee Nummer eins: Balkanmusik ist die Musik Ex-Jugoslawiens.
Diese Ansicht hat vielleicht damit zu tun, dass in den Neunzigerjahren von den „Balkankriegen“ die Rede war und diese eben auf dem Gebiet des zerfallenden Jugoslawiens stattfanden. Man hätte damals konsequent von den Jugoslawienkriegen reden müssen. Der eigentliche Balkan ist jedenfalls ein tertiäres Faltengebirge, dessen Hauptkamm in Bulgarien liegt; nach ihm ist die Balkanhalbinsel benannt. Diese ist von drei Seiten von Meer begrenzt. Sie hört im Norden ungefähr dort auf, wo die Berge in Flachland übergehen, wobei das im Fall der Alpen- und Karpatenausläufer nicht ganz leicht zu lokalisieren ist. Nach dieser Definition besteht der Balkan auf jeden Fall aus Griechenland, Bulgarien, Albanien, Bosnien-Herzegowina, Nordmazedonien, Montenegro, dem Kosovo, größeren Teilen Serbiens, Rumäniens, Kroatiens, Sloweniens sowie dem europäischen Teil der Türkei. Oft werden auch die östlichen Mittelmeerinseln dazugerechnet.
Vom musikalischen beziehungsweise musikethnologischen Standpunkt aus kann man die Grenzen etwas anders ziehen. Da würde man beispielsweise Slowenien überwiegend dem alpenländischen Raum zuordnen, nicht dem Balkan. Gleichzeitig gäbe es gute musikalische Gründe, Ungarn dem Balkan zuzuschlagen, etwa weil dort der Einfluss der Romamusik ähnlich groß ist und ein ähnliches Portfolio an Tonleitern benutzt wird.
Barcelona Gipsy Balkan Orchestra
Fotos: Jordi Oliver
Klischee Nummer zwei: Balkanmusik ist Romamusik.
Um es klar zu sagen: Natürlich gibt es auf dem Balkan viele Roma, die Musik machen. Wenn wir aber das Gefühl haben, dass sie das Geschehen dominieren, hat dies viel mit unserer westlichen musikalischen Sozialisation zu tun. Entfacht durch Filme wie Time of the Gypsies von Emir Kusturica, gab es ab Ende der Achtziger im Westen ein gesteigertes Interesse an Roma und ihrer Musik, auf das die hiesige Tonträgerindustrie reagierte.
So stellten die belgischen Produzenten Stéphane Karo und Michel Winter die rumänische Gruppe Taraf de Haidouks zusammen und vermarkteten sie im Westen auf Messen, Konzerten und Alben als Stimmungskanonen. Allein der Name (übersetzt „Heiducken-Orchester“) war ein Coup, denn „Heiducken“ bezeichnet Gesetzlose oder Freiheitskämpfer und damit stolze und verwegene Menschen. Viele weitere Bands vom Boban Marković Orkesta aus Serbien bis zu den türkischen Trakya All Stars wurden entdeckt oder zusammengestellt und im Westen als Sinnbilder feierwütiger Roma präsentiert. Was diesem Image Vorschub leistete, war, dass in der Tat Roma in vielen Teilen des Balkans lange als bezahlte Musikerinnen und Musiker arbeiteten und von der Nicht-Roma-Bevölkerung etwa für Hochzeits- und andere Feiern bestellt wurden.
Der Hype um die Romabands und die Weiterentwicklung ihrer Musik zum sogenannten Balkan Beat (Bläser mit Elektronik) darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auf dem Balkan viele Musiktraditionen gibt, die nicht oder kaum von den Roma geprägt sind. Dazu zählen etwa das griechische Kunstlied oder die bulgarische Chormusik.
Vartra
Fotos: Teodor Lazarev, VizArt Studio
„Es gibt alles, vom Traditionalismus bis zum Modernismus.“
Klischee Nummer drei: Balkanmusik ist Blasmusik.
Viele der ab den Neunzigern in Westeuropa bekannt gewordenen Bands bestehen in der Tat vornehmlich aus Blechbläsern. Auch der 2006 gedrehte Film Gucha von Dušan Milić hat seinen Teil dazu beigetragen. Die Romeo-und-Julia-Geschichte spielt im südserbischen Guča, wo seit 1961 jährlich im August ein mehrtägiges Trompetenfestival mit Wettbewerb um die Goldene Trompete stattfindet. Der Film hebt übrigens richtigerweise hervor, dass es in dem kleinen Ort traditionell einen Wettstreit zwischen Romabands auf der einen und serbischen Musikgruppen auf der anderen Seite gibt. Das ist bis heute so und zeigt sich auch in der Bandauswahl der umliegenden Tavernen, die jenseits des Wettbewerbs oft penibel darauf achten, abwechselnd je eine Roma- und eine Serbengruppe auftreten zu lassen. Interessanterweise sind die grandiosen serbischen Bläser, etwa die Bands von Dejan Petrović und Dejan Lazarević, in Westeuropa völlig unbekannt.
Vergessen werden sollte aber nicht, dass es viele blechbläserfreie beziehungsweise -arme Musikrichtungen auf dem Balkan gibt. Dazu gehört beispielsweise die Sevdalinka, eine ursprünglich städtische und stark osmanisch-slawisch geprägte Liebeslyrik aus Bosnien-Herzegowina, die inzwischen auch in Kroatien, Montenegro und Serbien geschätzt wird (siehe auch Artikel zur Band Divanhana auf Seite 18). Sie wurde zunächst gar nicht, später auf der Bağlama, dann auch mit Akkordeon, Violine, Tamburin und Gitarre begleitet – heute noch erheblich vielfältiger, aber weiterhin nahezu ohne Blechblasinstrumente.
Amsterdam Klezmer Band
Fotos: 1 Fred van Diem, 2 Tessa Posthuma de Boer
„Alle Balkanländer zeigen in ihrer Musik musikalische Überbleibsel der rund fünfhundertjährigen Osmanenherrschaft.“
Klischee Nummer vier: Klezmer kommt vom Balkan.
Es gibt natürlich sehr unterschiedliche Definitionen von Klezmer, aber folgt man der, dass es sich dabei um die Instrumentalmusik Jiddisch sprechender Juden in Osteuropa handelt, so gilt: Das Kerngebiet des Klezmer geht am nordöstlichen Rand des Balkan entlang. Es erstreckt sich von Lettland über Polen, Weißrussland, das westliche Russland bis nach Moldawien und in die Ukraine. Im frühen zwanzigsten Jahrhundert war Klezmer im Osten Europas kaum noch verbreitet und wurde eher in Amerika gepflegt, von wo aus das Genre ab den Siebzigerjahren zu einer weltweiten Renaissance aufbrach. Wenn es um jüdische Einflüsse auf die Klangwelt des Balkans geht, lässt sich übrigens diskutieren, ob der der sephardischen Musik nicht um einiges größer ist als der des Klezmer.
Dass Klezmer und Balkanmusik oft miteinander in Verbindung gebracht werden, hat aber dennoch einige nachvollziehbare Gründe. Erstens gibt es viele – übrigens oft weder auf dem Balkan noch in der Ursprungsregion des Klezmer beheimatete – Bands, die sowohl Balkan- als auch Klezmermusik im Repertoire haben, wie etwa das Barcelona Gipsy Balkan Orchestra, die Amsterdam Klezmer Band, Balkan Beat Box, Tumbacaria, Ticvaniu Mare, Massel-Tov, A Glezele Vayn … Zweitens hatten Juden in der benannten Region eine ähnliche Funktion wie die Roma auf dem Balkan, nämlich die der Berufsmusik bei wichtigen Festen. Drittens ist das Arsenal an Tonleitern ähnlich. Viertens wird traditionell ein ähnliches Instrumentarium benutzt. Und fünftens waren die Einzugsgebiete der Balkanmusik und des Klezmer natürlich nie trennscharf voneinander abgegrenzt. So erklärt sich, dass es in beiden Regionen beispielsweise die Liedformen Sirba und Doina gibt. Man spielt sogar zum Teil dieselben Stücke.
Klischee Nummer fünf: Auf dem Balkan gibt es nur krumme Taktarten.
Gewiss, der Balkan ist reich an Taktarten, die in ungleiche Teile unterteilt werden. So stehen beispielsweise die auch hierzulande geläufigen Lieder „Ajde Jano“, „Jovano, Jovanke“ und „Makedonsko Devojče“ allesamt im Siebenachteltakt mit der Einteilung drei plus zwei plus zwei Achtelnoten. Gleichzeitig gibt es auf dem Balkan noch erheblich komplexere Taktarten. Insbesondere Bulgarien ist reich darin. Hier kommt so ziemlich alles von Fünfachtel bis Zweiundzwanzigsechzehntel vor, und manche Taktarten kombinieren sogar zwei krumme Takte, so gibt es einen Zwölfachteltakt, der eigentlich ein Fünfachtel mit nachfolgendem Siebenachtel ist. Das heißt aber nicht, dass alle Balkanstücke aus krummen Taktarten bestehen. Der vielleicht bekannteste Tanz auf dem Balkan, der in Serbien, Bosnien und Kroatien getanzte Kolo, tut es beispielsweise nicht: Er ist ein schnöder Zweivierteltakt.
Klischee Nummer sechs: Balkanmusik ist turboschnell.
Das trifft sicher auf einen Großteil der Blasmusik zu, auch auf den Kolo. Manche Gattungen haben aber nur ein mittleres Tempo oder sind sogar regelrecht langsam. Das gilt zum Beispiel für die bereits erwähnte Sevdalinka. Die im südkroatischen Dalmatien gepflegte und 2012 von der UNESCO zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit erklärte Gesangstradition Klapa ist ebenfalls sehr getragen. Sie stammt vom liturgischen Kirchgesang ab, wurde ursprünglich nur von Männern vorgetragen und setzt mehr auf Harmonien und Melodien als auf Rhythmik. Zu nennen ist auch die Musik der Aromunen. Dies ist eine Bevölkerungsgruppe ohne eigenen Staat, die über den ganzen Balkan, insbesondere Albanien, Griechenland, Mazedonien und Bulgarien verstreut lebt. Sie spricht eine eigene Sprache in diversen Ausprägungen, die in der Sprachwissenschaft allerdings von manchen dem Rumänischen zugeschlagen wird. Ihre oft heterofon vorgetragenen Lieder sind an Langsamkeit kaum zu überbieten.
Und was gibt es jetzt zu entdecken, wenn man sich einmal von den geläufigen Vorstellungen von Balkanmusik verabschiedet? Es ist tatsächlich viel und schwer auf einen Nenner zu bringen. Alle genannten Länder und Regionen zeigen in ihrer Musik weiterhin – mehr oder weniger intensiv – musikalische Überbleibsel der rund fünfhundertjährigen Osmanenherrschaft, insbesondere in Bezug auf Taktarten und Tonleitern, auch wenn sie, anders als man es aus dem türkischen oder arabischen Raum kennt, gewöhnlich Leitern verwenden, die in Halbtonschritten oder Vielfachen derselben beschrieben werden können.
Wie überall sonst gibt es auch auf dem Balkan alles vom Traditionalismus, der die historische Aufführungspraxis reproduzieren will, bis hin zum Modernismus, der nur Schnipsel überlieferter Lieder in ansonsten elektronischer Musik zitiert oder mal eben mit einem Folkinstrument eine Pop- oder Jazzmelodie anreichert. Traditionalisten sind etwa die Zwillingsbrüder Radiša und Ratko Teofilović aus Serbien mit ihrem innigen und atemberaubend auf einander abgestimmten Gesang, Modernisten die Villagers of Ioannina City aus Griechenland, die Progrock mit traditionellen Instrumenten wie Kaval und Dudelsack verbinden. Irgendwo dazwischen liegen der Virtuose Bora Dugić an der Frula (Holzflöte mit sechs Löchern vorne und einem Loch hinten), die Pagan-Folk-Combo Vartra sowie die Gitarristen Miroslav Tadić und Vlatko Stefanovski, die gemeinsam mit Live In Belgrade 2000 ein Album vorlegten, das der berühmten Friday Night In San Francisco von Al Di Meola, John McLaughlin und Paco de Lucía von 1980 in nichts nachsteht. Daneben gibt es massenhaft tolle albanische Klarinettisten und feinen rumänischen Folkjazz. Vieles muss hier unerwähnt bleiben, ist aber in den gängigen Internetmedien und – viel schöner! – im Juli auf dem Festival in Rudolstadt zu finden. Allen, die hingehen, frohes Entdecken!
Albumtipp:
Jordi Savall & Hespèrion XXI, Esprit Des Balkans – Balkan Spirit (Alia Vox, 2013)
Linktipps:
www.amsterdamklezmerband.com
www.balkanbeatbox.com
www.bgko.org
www.glezele.de
www.facebook.com/dejanlazarevic.orkestar
www.masseltov.com
www.dejanpetrovic.com
www.facebook.com/vlatko.stefanovski.mk
www.miroslavtadic.com
www.facebook.com/tarafdehaidouksofficial
www.teofilovici.rs
www.ticvaniumare.com
www.tumbacaria.de
www.vartramusic.com
www.facebook.com/villagersofioanninacity
Videotipps:
Brothers Teofilović mit Miroslav Tadić: https://youtu.be/bQ5yYVdWY4s
Miroslav Tadić mit Vlatko Stefanovski: https://youtu.be/kyFwwIHw6nw
Bora Dugić: https://youtu.be/UvIc5Qlg0xQ
Villagers of Ioannina City: https://youtu.be/FGY-yiKl1NQ
Jordi Savall: https://youtu.be/_la6WG5LEq8
Danke für den tollen Überblick und die aufschlussreichen Einblicke! Und um das Motto von Deutschlandfunk ein wenig abzuändern: Es ist kompliziert und dazu gute Musik vom Balkan!