Die Zeitgenössische Oper Berlin im Zeichen der „Female Voice“

Die Kraft der einen Stimme

22. Februar 2022

Lesezeit: 4 Minute(n)

Mit zwei Musikproduktionen stellt die Zeitgenössische Oper Berlin die weibliche Stimme Afghanistans und die des Iran in den Mittelpunkt. Vor allem das Onlinefestival The Female Voice of Afghanistan im Oktober 2021 wurde von internationalen Medien viel beachtet, konnten doch Produzent und Filmemacher Andreas Rochholl und die Ethnomusikologin Yalda Yazdani die Musik der afghanischen Frauen kurz vor der Machtübernahme der Taliban dokumentieren.
Text: Ulrike Zöller

Musik und Raum, Körper und Bewegung im Kontext unserer Zeit zu präsentieren, dokumentieren und hinterfragen – diese Aufgabe stellt sich die Zeitgenössische Oper Berlin seit 25 Jahren. Nach anfänglichen Opernproduktionen im eigenen Haus spürt der künstlerische Leiter Andreas Rochholl sowohl dem Begriff „Oper“ als auch den Koordinaten Raum, Körper und Bewegung mit ihren verschiedenen Möglichkeiten nach. Musik im Kontext unserer Zeit existiert auch im Privaten, im Freien, außerhalb der Stadt, außerhalb Deutschlands und Europas, ist nicht an akademische Ausbildung oder europäische Begriffe der Harmonielehre, Tonalität, des Rhythmus gebunden. Der studierte Opernregisseur und Sänger Rochholl wendet sich nach seinen Jahren an der Wiener Staatsoper und am Theater Basel Produktionen zu, die gern als experimentell bezeichnet werden.

2015 lernt er durch die Vermittlung eines Kollegen eine iranische Musikerin kennen, die in Istanbul Ethnomusikologie studiert. „Es war für mich wie ein Schlüssel zu einer neuen Welt, als ich Yalda Yazdani kennengelernt habe“, erinnert er sich an die erste Begegnung mit der Frau, die ihm so viele Türen öffnen sollte. „Sie zeigte mir unter anderem ein Video von der 92-jährigen Nomadin Masoomeh Gorginpour, das mich tief berührte – sie hat mir das Leben neu beigebracht, auch im Feld der Musik.“

Yazdani und Rochholl werden ein Team. Sie recherchieren vor Ort, planen ein Festival, eine Hommage an die iranische Frauenstimme, die aus vielen verschiedenen Facetten besteht. Zu dokumentieren und zu präsentieren, dass es den einen typischen iranischen Frauengesang nicht gibt, ist das Anliegen der beiden. Sie bereisen verschiedene Gegenden des Landes, treffen in den vielen Wochen ihrer Recherche auf Frauen jeden Alters, jeglicher Gesellschaftsschicht, vieler ethnischer und kultureller Gruppen. Für Andreas Rochholl ein Erlebnis, das ihn prägt wie wenig anderes in seinem Leben. Weit über die Musik hinaus sammeln sie Geschichten, Lebensläufe, Lebensweisheiten.

Cast und Crew von The Female Voice of Iran

Foto: SLFILM media

Über die Aufnahmen berichtet Yalda Yazdani unter anderem beim Rudolstadt-Festival 2019 und räumt mit dem Vorurteil auf, dass der Frauengesang im Iran wegen des Verbots des Sologesangs seit 1979 ausgestorben sei: „In so vielen Bereichen des täglichen Lebens gehört der Gesang der Frauen einfach dazu.“

Sängerinnen aus allen Landesteilen singen 2017 und 2018 in Berlin beim Festival Female Voice of Iran mit einer Stimme, gespeist aus verschiedenen Traditionen und Herangehensweisen an die iranische Musik, Jazz und Pop. Die Erfahrungen mehrerer Dokumentationsreisen und einen berührenden poetischen Reisebericht veröffentlichen sie zusammen mit Sebastian Leitner, dem Partner Andreas Rochholls in deren gemeinsamer Firma, und Tonmann Lorenz Brehm. Es ist ein Film voller Schönheit und Stärke, man kann sich dem Bann der Stimmen, Charaktere und Geschichten der Frauen zwischen 15 und 97 Jahren nicht entziehen.

Nach diesen Erfahrungen kommt die Idee auf, auch den afghanischen Frauen ein Forum zu bieten. Mithilfe der Journalistin Sharmila Hashimi versuchen Rochholl und Yazdani ähnlich vorzugehen wie bei ihrem Vorgängerprojekt. Allerdings sind die Voraussetzungen völlig anders, was bereits mit der Recherchereise anfängt, die der Produzent privat durchführen muss, da für solche riskanten Unternehmungen keine Förderungen vorgesehen sind. Außerdem findet sich im Juli 2021 kaum jemand, der sich kurz vor der Machtübernahme der Taliban in Gefahr begeben will. Für Andreas Rochholl aber war klar: „Ich geh da rein. Wenn ich dort sterbe, dann sterbe ich.“

Andreas Rochholl und Yalda Yazdani in Afghanistan

Foto: Zeitgenössische Oper Berlin

Gefunden wurden Geschichten von mutigen, starken Frauen, die gern Fußball spielen, singen, erzählen und für die Musik leben. Auffällig ist, wie sie dem Interviewer auf Augenhöhe begegnen, Selbstbewusstsein und Sicherheit ausstrahlen. Über Tausende von Kilometern hinweg nehmen sie Kontakt mit Musikerinnen in Deutschland auf und kreieren in digitaler Verbundenheit Neues. Am Ende kann das Festival The Female Voice of Afghanistan nur digital stattfinden – und ist trotzdem überzeugend.

Yalda Yazdani ist fasziniert von der Vielfalt der Musiktraditionen in den verschiedenen Teilen des Landes, beispielsweise von Freshta Farokhi aus der Region Bamyan westlich von Kabul, deren Gesangstechnik und musikalische Struktur ihrer Lieder für die Ethnomusikologin völlig neu ist. Wie bei The Female Voice of Iran sind auch beim teils in einer Boxhalle in Kabul aufgenommenen Festival The Female Voice of Afghanistan Frauen aus unterschiedlichen musikalischen Genres zu erleben, die alle nur ein Ziel haben: Musik zu machen. Zur Zeit der Aufnahme im Juli 2021 sind Frauen als Sängerinnen auf Bühnen und in Fernsehkanälen präsent.

„Diese Frauen sind stark und werden weiter Musik machen.“

Das sollte sich innerhalb weniger Tage ändern. In den verschiedenen Filmen, die die neun Frauen in ihren Musikwelten porträtieren, ist auch das Ende ihrer Karriere im eigenen Land vorauszuahnen. Obwohl keine von ihnen freiwillig der Heimat den Rücken kehren will, müssen sie sich innerhalb weniger Tage aus der Öffentlichkeit zurückziehen und meist das Land verlassen. Sadiqa Madadgar, nach einem gewonnen Fernsehwettbewerb Star in Afghanistan, fragt Ende August in einem Telefonat mit brechender Stimme: „Wie kann ich fliehen? Wie kann ich sicher sein?“ Später wird publik, dass sie die Ausreise nach Abu Dhabi geschafft hat. Eines aber betonen Andreas Rochholl und Yalda Yazdani immer wieder: Diese Frauen wollen sich nicht als Opfer sehen. Sie sind stark und werden weiter Musik machen. In einem anderen Raum, mit ihren vielen traditionellen und kreativen Facetten – und mit einer Stimme.

Aufmacherfoto:

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